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Komponisten / Stücke O – R

 

 

Pauline Oliveros: Sound Piece

 

In diesem Stück kann ein Klang von jeder beliebigen Klangquelle herrühren. Der Klang kann kürzer oder länger, leiser oder lauter, einfach oder komplex sein, soll jedoch nicht als Teil oder Abschnitt einer Musik (z. B. aus dem Radio oder von einer Aufnahme) erkennbar sein. Jeder Klang sollte einen eigenen Charakter haben. Klänge, die schwer erkennbar sind, dürften interessanter sein. Klänge, die von ungewöhnlichen Klangquellen stammen, oder in ungewöhnlicher Weise erzeugt oder positioniert werden, dürften ein größeres Interesse hervorrufen. Die Klangquellen können optisch interesssant sein – oder auch nicht – und können auf die Bühne gebracht werden, um die Aufführung klanglich, visuell oder dramaturgisch zu beleben. Die Klänge können nah oder fern, von ortsfesten oder beweglichen Klangquellen erzeugt werden.

Jeder Spieler bereitet eine Anzahl von Klängen vor, um sie innerhalb einer festgelegten Dauer, z. B. zehn Minuten oder auch viel länger, vorzustellen. Jeder Spieler kann so viel oder so wenig Klangquellen benutzen, wie sie oder er möchte. Jeder Spieler ersinnt ein eigenes Zeitschema und eine eigene Dramaturgie für die Klänge innerhalb der gegebenen Dauer. Das Stück beginnt mit dem ersten Klang und endet, wenn die Zeit um ist.

Variation: Die Klänge werden entweder vor, nach oder gleichzeitig mit dem Klang eines anderen Spielers erzeugt. Die Dauer des Stückes kann zuvor festgelegt werden oder, wenn die Zeit nicht begrenzt ist, kann das Stück auch fortgesetzt werden bis die Energie verbraucht ist.

Pauline Oliveros, 13. Juli 1998, Kingston NY

 

 

Sound Piece

In this piece a sound could come from any sort of sound source. The sound could be shorter or longer, softer or louder, simple or complex but not identifiable as a fragment or phrase of music (from a radio or recording for example). Each sound used should have its own character. Sounds that are difficult to identify might be more interesting. Sounds that come from unusual sources, methods of activation or locations might have more interest. The sound sources might be visually interesting (or not) and could be staged to enliven the performance space in an interesting audio as well as visual and dramatic design. Sounds could be local or distant with stationary or moving sound sources.

Each person prepares a number of sounds to present within a predetermined duration i. e. 10 minutes or much longer. Each person may have as many or few sound sources as they want. Each person devises their own time scheme and staging for their sounds within the given duration. The piece begins with the first sound and ends when the time is up.

Variation: Sounds are activated either before, after or exactly with another performer’s sound. The duration of the piece may be predetermined or if time is not limited the piece could go on until the energy is spent.

Pauline Oliveros, July 13 1998, Kingston NY


 

 

Holzkisten durch die Gegend kicken – Pauline Oliveros und das Ensernble Zwischentöne erzählten in der Parochialkirche von den Geräuschen des Alltags
von Björn Gottstein

Gäbe es das TV-Quiz „Familienduell“ in einer Ausgabe für musikalisch Halbgebildete und lautete der vorgegebene Begriff „Pauline Oliveros“, dann wäre „Om“ eine viel versprechende Antwort.

Die 1932 in Texas geborene Komponistin und Akkordeonistin gilt heute neben Meredith Monk als Leitfigur einer musikalischen Ästhetik, die sich entlang den Koordinaten Spiritualismus und Feminismus angesiedelt hat. „Sonic Meditations“ oder „Deep Listening“ heißen die meditativ und ganzheitlich konzipierten Werke, die Pauline Oliveros der männlich dominierten europäischen Konzerttradition entgegenhält.

Seit den 60er-Jahren verwendet sie dazu ausschließlich Verbalpartituren, die auf die traditionelle Notenschrift verzichten und den Ausführenden stattdessen großzügig Freiheiten einräumen. Es konnte am Dienstagabend in der Parochialkirche also kaum überraschen, dass man den gesamten Partiturtext von „Sound Piece“ aus dem Jahr 1998 auf einer halben Seite des Programmheftes abgedruckt fand. Und die tunichtgute Unbestimmtheit der Partitur, die von den Klängen verlangte, dass sie „kürzer oder länger, leiser oder lauter, einfach oder komplex“ sein mögen, konnte die Erwartungshaltung nur betonieren.

Erst mit den ersten konzertanten Aktionen wurde deutlich, dass man in der folgenden Stunde etwas anderes zu erwarten hatte als Klang gewordene Spiritualität. Denn unter der unvermeidlichen Inkonsistenz neun autark agierender Musiker entwickelte sich „Sound Piece“ zu einer heterogenen, gelegentlich durchaus zähen Klangcollage.

Im Mittelpunkt standen dabei die small sounds, die kleinen Gerausche, die der Alltag abstrahlt und die oft unbemerkt an uns vorüberschallen: das Rascheln einer Plastikfolie, das Klicken einer Blechdose oder das verhaltene Knacken eines gespaltenen Holzstücks. Nur selten entfalteten sich dabei kommunikative Strukturen. Der einsilbige Dialog über Trauer und Wehmut etwa, in den sich Posaune und Akkordeon zu verstricken versprachen, dauerte am Ende nur wenige Sekunden. Meist zogen einzelne Klangquellen die Aufmerksamkeit auf sich, indem sie sich dominant in den Vordergrund spielten.

Die teuer verkabelte Gitarre etwa verströmte wundervoll dubbige Effekte, spielte die Wucht der elektrischen Verstärkung aber auch kaltblütig aus. Im Gegensatz zu den langatmigen und spannungsreichen Bögen, die frühere Werke von Oliveros auszeichneten, kamen hier Gesten zum Tragen, die dem Klischee einer friedfertigen und sinnlichen weiblichen Musikkultur zuwiderlaufen: Nervosität und Bedrohlichkeit gehören ebenso dazu wie die latente Aggressivität, die das schnoddrige Herumtreten von Holzkisten verbreitete.
Am schwersten auf dieser Aufführung aber lastete die vermeintliche Willkür, die auf musikalische Argumente wie Zyklus oder Linearität verzichtete. Dass der Applaus schließlich zu früh einsetzte, noch während der Kontrabass einige verwischte Streichgeräusche von sich gab, zeugt von der Irritation und der Unsicherheit, die Oliveros und das Ensemble Zwischentöne an diesem Abend entfesselten.

Björn Gottstein, die taz, berlin-kultur, 29. Juni 2000

 

 

 

Was ihr hören wollt – Pauline Oliveros’ „Sound Piece“ in der Berliner Parochialkirche
von Stefan Melle

Manch einem mag das Gefühl vertraut sein, wenn eine Massage die Beschaffenheit des eigenen Körpers in unerwarteter Weise spürbar macht. Jäh sind alle Sinne auf dieses vielschichtige Körperempfinden gerichtet, daraus erwächst auch jenes gleichzeitig Beruhigende und Erfrischende, das den Erfolg der Behandlung anzeigt. Eine ähnliche Wirkung rief zunächst das Konzert des Ensembles „Zwischentöne“ am Dienstag in der Parochialkirche hervor. Die erstmals in Europa aufgeführte Komposition „Sound Piece“ der Amerikanerin Pauline Oliveros begann mit langem, stillen Sitzen. Dadurch wirken im Kirchenraum die leisen Geräusche prompt lauter – der Wind in der Kuppel, letzte Schritte eines verspäteten Besuchers, ein Rücken, der an der Lehne entlangschleift.

Dann beginnen die Spieler kaum hörbar eine Musik, die das Versinken lehren will. Einzeln sind die Musiker im Raum verteilt und haben um sich herum ein farbiges Sammelsurium von Instrumenten und Geräuscherzeugern angehäuft. Das reicht von der Geige und Posaune, die indes nur begrenzt ihre Möglichkeiten ausspielen, über Porzellanteller, Blechbüchsen und Würfeln, die auf dem nackten Steinfußboden scheppern, klirren, klickern, bis zu Raschelfolie, Kinderspielzeug und allerlei Kuriositäten, die an die variantenreichen Klänge der Welt erinnern. Der Laut einiger Wassertropfen eröffnet das Werk, fast unhörbares Pendeln, Quietschen und Quellen, Sichballen, Trennen und Zerrinnen von Klängen, später auch Stimmen, entwickeln es fort. Fast immer bewegt sich das Geschehen im leisen oder nur vorsichtig lauteren Bereich. Selten nimmt es energische, nie dramatische Züge an.

Freie Improvisation. Nun ist das alles in der Komposition von Oliveros so nicht vorgeschrieben. Schon seit langem gibt sie den Musikern nur noch ungefähre Handlungsanleitungen mit, wodurch diese zu Interpreten im umfassenden Sinn des Wortes aufgewertet werden. Die Anweisung für „Sound Piece“ fordert dabei, dass die Musiker nach individuellem Ermessen beliebige eigene Klänge von beliebigen Klangquellen während einer zuvor vereinbarten Dauer produzieren. Zugespitzt heißt das: „Legt eine Zeitspanne fest, macht darin, was ihr wollt, aber zitiert nicht.“ Solch eine Rahmensetzung verzichtet freilich sowohl weitestgehend auf die Definition dessen, was im Konzert erklingen oder an Beziehung erlebbar werden soll, als auch dessen, was nicht zu hören und zu sehen sein soll. Sie läuft damit auf freie Improvisation hinaus. Die Anweisung stellt für die Musiker nur noch den Anlass dar. Dergestalt macht die viel beschworene Konzeptkunst sich selbst überflüssig. Vielleicht trägt auch deshalb Oliveros „Klangstück“ den wohl allgemeinsten Titel, den ein Musikwerk führen kann.

Außer durch die gemessene Ruhe des gesamten Verlaufs wird das Stück von der Faszination der vielen verschiedenen Klangnuancen getragen und von der instinkti ven Neugier des Hörers auf das nächste, nicht vorhersehbare Musikereignis. Doch bereits nach gut der Hälfte der 70 Minuten, die die Musiker sich auszufüllen vorge nommen haben, zerfasert die Kraft des musikalischen Geschehens beträchtlich. Zwar gibt es da immer noch unablässig neue Klangereig nisse. Doch sie stellen sich doch nur alsVariante des schon Gehörten heraus und gewinnen auch keinen weiteren Sinn als den, mittels Fortdauer tiefer in die Seelenbalance eingreifen zu wollen. Der Hörer jedoch beginnt, die Ziegelwände, Gewölbe und Balkenkonstruktionen der Parochialkirche zu betrachten. Etwas grundlegend Neues hat er an diesem Abend nicht erlebt, im Gegenteil begegnete er lange Bekanntem, das man hin und wieder zur Erfrischung der Ohren gern wiederhört. Freilich nur in angemessener Dosis. Denn irgendwann bewirkt auch die angenehmste Massage statt der ursprünglichen Belebung eher fühllose Erschöpfung.

Stefan Melle, Berliner Zeitung, 29. Juni 2000

 

 

 

Die Wurzeln des Augenblicks – Über das Hören
von Pauline Oliveros

[...] Meine Kompositionsweise wird meist entweder als gewichtiger Beitrag zur neuen Musik gesehen oder aber als Nicht-Musik abgetan, da sie nicht konventionell notiert ist und somit nicht auf konventionelle Weise beurteilt werden kann. Sie wird abgetan, weil sie nicht unbedingt in Noten aufgeschrieben ist oder weil die Spieler aufgefordert werden, Rhythmen und Tonhöhen nach Konzepten zu erfinden oder auf Metaphern zu reagieren. Musiker, die gewohnt sind, Noten und Rhythmen zu lesen, erschrecken oft über die karge Notation im Vergleich zu gewohnten Partituren, die ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Tonhöhen und Rhythmen lenken, die ihnen vorhersagbar und wiederholbar vorkommen. Ich lege mehr Wert auf die unvorhersagbaren und ungewissen Möglichkeiten, die eben dadurch zum Tragen kommen, daß ich keine bestimmten Tonhöhen und Rhythmen vorgebe. Ich ziehe organische Rhythmen den ausschließlich metrischen Rhythmen vor. Das volle Klangspekrtrum ist mir lieber als ein umgrenztes Tonsystem. Innerhalb dieses umfassenden Kontexts klangorientierter Komposition setze ich manchmal Metren und Skalen ein.

Meine Musik ist interaktive Musik. Sie ist interaktiv in dem Sinn, daß die Teilnehmer an der Schöpfung des Werkes teilhaben, anstatt darauf reduziert zu sein, Töne und Rhythmen ausdrucksvoll zu interpretieren. Ich habe den äußeren Rahmen, die Anleitungen, auf welche Art zu hören und zu reagieren ist, komponiert. Diese Rahmen und Anleitungen geben den Interpreten bei richtigem Gebrauch die Möglichkeit, kreativ zu werden, mit mir zusammen zu komponieren und aufzuführen und ihr musikalisches Spektrum zu erweitern.

Die Bandbreite der Notationspraktiken, die ich einsetze, um meine kompositorische Arbeit vorzustellen, umfaßt die Notation im konventionellen Liniensystem, graphische Notation, Metaphern, Prosa, mündliche Anleitungen und Aufnahmegeräte. Die Sonic Meditations sind als Anweisungen oder Rezepte notiert. Die schriftlichen Fassungen der Sonic Meditations entstanden erst nach vielen Versuchen mit mündlichen Anweisungen, die an viele verschiedene Menschen weitergegeben wurden. Obwohl sie im Druck erschienen sind, verändere oder überarbeite ich öfters den Wortlaut, um diese Anweisungen in neue Situationen überführen zu können.

Meine Anweisungen sind dazu gedacht, bei den Ausführenden und innerhalb einer Gruppe einen Prozeß der Aufmerksamkeit auszulösen, der sich mit der Zeit durch wiederholte Erfahrung noch vertiefen kann. Hier als Beispiel ein Stück für Stimmen oder Instrumente: „Three Strategic Options – Gemeinsam horchen. Wer bereit ist anzufangen, wählt eine der drei folgenden Möglichkeiten aus: Vor einem anderen Spieler einen Klang erzeugen, nach einem anderen Spieler einen Klang erzeugen oder mit einem anderen Spieler einen Klang erzeugen. Wieder horchen, bevor eine andere Möglichkeit gewählt wird. Während der gesamten Dauer des Stücks sollen die Möglichkeiten frei gewählt werden. Das Stück endet, wenn alle wieder auf ein gemeinsames Horchen zurückkommen. Bei einer Soloaufführung werden die Mitspieler durch Geräusche der Umgebung ersetzt.“

Um Three Strategic Options aufführen zu können, müssen alle Mitspieler auf inander hören. Bei jeder Wahlmöglichkeit verlagert sich die Aufmerksamkeit. Die Erzeugung von Klängen vor anderen Mitspielern kann in einen Wettbewerb ausarten. Man muß auf einen stillen Moment hören, in dem sich eine Gelegenheit bietet. Zur Erzeugung von Klängen nach anderen gehört Geduld. Man muß auf das Ende eines Klanges hören. Das Erzeugen von Klängen gemeinsam mit anderen verlangt Intuition, das unmittelbare Erkennen, wann man anzufangen und wann man aufzuhören hat. Eine endgültige Aufführung wird nicht erwartet, da jede Aufführung sich beträchtlich von einer anderen unterscheiden kann, obwohl die Vorgaben unangetastet bleiben und man das Stück wiedererkennen kann, wenn es immer von der gleichen Gruppe aufgeführt wird. Der Stil ändert sich hingegen je nach Spielern, Instrumentation und Umgebung.

Zuallererst geht es in meinen schriftlichen und mündlichen Anweisungen darum, den Spielern Aufmerksamkeitsstrategien an die Hand zu geben. Aufmerksamkeitsstrategien sind nichts anderes als Hör- und Reaktionsweisen im Hinblick auf die eigene Person, andere und die Umgebung. Diese Strategien führen zum Zuhören. Hören die Musiker zu, dann lauscht wahrscheinlich auch das Publikum.

Obwohl es im Vergleich zu gewöhnlichen Partituren unmöglich scheint, das Ergebnis einer Aufführung im voraus einschätzen zu können, ist die Komposition der Anweisungen und des äußeren Rahmens ein Handwerk, das genausoviel sorgfältige Überlegung erfordert wie jede Partitur. Es ist wichtig, daß alle die allgemeinen Anweisungen verstehen. Und diese Anweisungen allen klar zu machen, stellt für den Komponisten eine Herausforderung dar. Ein falsches Wort kann Widerstände oder Verwirrung hervorrufen. In der Werkreihe Interaktive Musik habe ich die Verantwortung von Komponist, Ausführenden und Zuhörern neu verteilt, indem alle schöpferisch am Hörprozeß, der einen Zugang zur Kreativität eröffnet, teilhaben können.

Bei der Realisierung meiner Notation stellen viele Musiker und Zuhörer fest, daß sie mit Phantasie zur Musik beitragen können. Darüber hinaus kann sie Musikern auch beim Spiel konventionellerer Musik helfen.

Die Entscheidung, wie man Musik oder dem Alltagsleben zuhört, beeinflußt die Qualität unserer Erfahrung. Das Hören ist ein Vorgang. Es kann wie ein Blitzschlag urplötzlich im Augenblick stattfinden oder sich aus eher intuitiven Vermutungen und gedankenvollen Anlehnungen an alte Erfahrungen zusammensetzen. Das bloße Zuhören kennt weder Vergangenheit noch Zukunft. Es hat die Macht, den Hörer möglicherweise für immer zu verändern – die Wurzeln des Augenblicks.

Niemand von uns Komponisten oder Improvisierenden kann für sich beanspruchen, Musik erfunden zu haben. Musik ist eine Gabe des Universums. Diejenigen unter uns, die sich darauf einstimmen können, sind wahrhaft glücklich. Wir haben mit einer mächtigen Kraft zu tun und nehmen zusammen mit Billiarden von Musikern, die vor uns gekommen sind, unsere Zeitgenossen sind oder auf uns folgen werden, an ihr teil. Wir können anderen dabei helfen, hören zu lernen und durch das Hören als lebenslange Übung an diesem Prozeß mitzuwirken. Als Musiker hören wir, um Tonhöhe, Klangfarbe und Rhythmus immer weiter differenzieren zu können. Diese allerfeinsten Nuancen kommen zusammen und schärfen das ästhetische Empfinden. Wenn wir zudem immer mehr auf das hören, was Hintergrundgeräusch zu sein scheint, erkennen wir Raumverhältnisse. Jeder Klang, auch das sogenannte Hintergrundrauschen, ist Träger von Informationen und Beziehungen. Das gilt auch für unser Alltagsleben. So lautet eine meiner Übungen: Man höre auf alles, bis alles zusammengehört und man selbst Teil davon ist.

Viele Jahre lang habe ich Gruppen zu einem interaktiven, klangorientierten Musizieren in Gruppen angeleitet. Überall scheinen Menschen ein Bedürfnis zu haben, nonverbale Klänge zu erzeugen. Es geschieht meist tagtäglich unbewußt, aber kaum einmal bewußt und in Gruppen. Nonverbale Klangerzeugung ist eine Möglichkeit, Gefühle auszudrücken und das Unbekannte zu erforschen. Fast alle Teilnehmer spüren eine Art Loslassen, das sich auch auf andere Aktivitäten auswirkt und die Phantasie fördert oder den Geist einfach erfrischt. Ungehemmte Klangerzeugung mit der Stimme macht Spaß. Musikalische Ausbildung wird nicht gebraucht – eine musikalische Erfahrung aber kann und wird sich einstellen. [...]

Aus: MusikTexte – Zeitschrift für neue Musik, Heft 76/77, Dezember 1998

 

Pauline Oliveros

Die 1932 in Houston, Texas geborene Komponistin Pauline Oliveros entwickelte das Konzept „Deep Listening“, eine Ästhetik, die auf den Prinzipien Improvisation, elektronische Musik, Ritual und Meditation basiert und sowohl Laien als auch professionelle Musiker zur Kunst des Lauschens und des Reagierens auf Umweltklänge inspirieren möchte. Oliveros erhielt eine erste musikalische Ausbildung am Klavier und am Akkordeon von ihrer Mutter und ihrer Großmutter und wurde insbesondere durch die Klänge der Natur beeinflußt: „Was mich am meisten geprägt hat, ist mein frühkindliches Interesse für Klänge. Wir lebten auf dem Land, wo die Luft tropisch schwül und voller Insekten war. Ich erinnere mich an das Gewieher der Pferde, das Gemuhe der Kühe, den Gesang der Hühner ... Ich könnte der Stereophonie der Autos, dem Starter-Rasseln, Motorstottern, Türquietschen und ‚blllaps‘ ewig zuhören. Es ist fast wie Debussy, nicht wie der Wagnersche Bulldozer. – Mein Stuhl knarrt, während die Unruhe wächst. Ich möchte wissen, was Gottes Stuhl für einen Klang hat. Ich würde gerne verstärken, wie eine Spinne ihr Netz webt.“

Sie studierte Komposition und Horn am San Francisco State College und spielte in einer Improvisationsgruppe gemeinsam mit Terry Riley. In den sechziger Jahren Kompositionen vorwiegend elektronischer Musik. „Als ich 16 war lehrte mich mein Lehrer, Kombinationstöne zu hören. Das Akkordeon eignet sich hervorragend dazu, sie zu erzeugen, wenn man es kräftig genug quetscht. Von dieser Zeit an suchte ich nach einem Weg, die Grundtöne zu eliminieren, so daß ich nur die Kombinationstöne hören konnte. Als ich 32 war, nahm ich Signalgeneratoren oberhalb der Hörgrenze und machte elektronische Musik mit den verstärkten Kombinationstönen. Ich fühlte mich wie eine Hexe, die Klänge aus niederen Gefilden einfängt.“ 1967 bis 81 Professur an der University of California in San Diego. 1985 Gründung der „Pauline Oliveros Foundation“. Weltweite Konzert- und Lehrtätigkeit.

Seit 1970 notiert die Komponistin im wesentlichen nur noch verbale Konzepte, exemplarisch dafür die Reihe Deep Listening. „Es war ein allmählicher Wandel. Ich hatte lange Zeit viel improvisiert, und nach und nach veränderte sich die Improvisation in Meditation. Ich begann, lange Töne zu spielen und zu singen, wollte sie nur am Klingen erhalten. Ich entdeckte, daß das auf mich wirkte. Es änderte mich. Je länger ich einen Klang spielte, desto mehr wirkte er sich auf die Veränderung meiner Wahrnehmung aus. Das war also eine Eingebung: Versuche nicht, den Klang zu ändern, laß den Klang sich ändern.“

 

Zur Site von Pauline Oliveros: http://www.deeplistening.org

 

 


 

 

 

Daniel Ott: zwischen

 

D. Ott: zwischen

Daniel Ott: zwischen (Probenphoto)

 

„zwischen“ entstand 1997/98 mit dem und für das Ensemble Zwischentöne. Die Mitglieder des Ensembles gehen neben ihrer Interpreten-Tätigkeit auch noch anderen Berufen nach – als Arzt, KomponistIn, Geigenbauer, Tonmeister usw. Für diesen Standort zwischen verschiedenen Tätigkeiten und Bereichen haben wir gemeinsam für jede einzelne Figur Klänge und Bilder gesucht. „zwischen“ setzt sich aus den so gefundenen Klangbildern zusammen und bewegt sich auch zwischen Improvisation und Komposition: Die Klangportraits bzw. Klang-Umgebungen der einzelnen Spieler wurden teilweise von diesen selbst komponiert bzw. improvisiert. Die komponierten Teile des Stücks basieren zum Teil auf kurzen Texten, um die ich die Spieler gebeten hatte:

„ich schreibe.
ich schreibe, dass ich schreibe.
in meiner erinnerung höre ich mich schreiben,
höre mich antworten: ellen fricke, sprecherin und linguistin.

ich sitze an meiner alten reiseschreibmaschine „torpedo“. ich höre ellen schreiben und sprechen.
ich tippe in die maschine was ich höre und antworte um in einen dialog mit der sprechenden zu treten.
ein rhythmus entsteht.

ich tanze also. ich bis zum umfallen. liegenbleiben. nichts.
schuhcremedosengeklapper ringsum. bin ich.
nichts ringsum tanzt, fällt um, liegt still da.
. . . dann vereinzelt ein helles geräusch wie von einem zu
boden geworfenen/gegangenen blechernen etwas – nicht mehr ich.

– ich werde wach, wenn ich etwas höre, was durch bewegte Luft hörbar wird
– atem trifft auf widerstand: sprache, gesang, flötentöne, der wind im kamin oder in den blättern
– holz: gewachsen, verzweigt, biegsam, entflammbar (. . . wie ich . . .)

zwischen baustelle und musik. beim mischen des mörtels kommt es auf die richtige mischung an.
der ins mörtelbett gesetzte stein wird mit dem mauerhammer nachgerichtet. ist der stein zu gross,
wird er gespalten. die töne der bodenplatten ergeben eine skala.

1) det jefühl man kann nüscht machen
2) dem pianeur ist nicht's zu schwör
3) musikmachen hat seine zeit und arbeiten hat seine zeit

messen des wertes mit der titration von gelb nach violett im glaskolben. langer klang die tiefe in sich ergründend nach aussen zeigend. unruhe rhythmisch schlagend an der melodie sich erfreuend.

bandoneonspielen und geigenbauen haben viel gemeinsames: über viele jahre hinweg kommen die bemühungen einem stochern im nebel gleich, das scheinbar wahllos einen zufälligen erfolg im finden der hütte verzeichnet. vor allem kommt es darauf an, nicht die orientierung zu verlieren.“

Ensemble Zwischentöne und Daniel Ott, Mai 1998

 

 

Zur Site von Daniel Ott: http://www.timescraper.de/komponisten/daniel_ott.html

 

 


 

 

Harry Partch: Lyrics by Li Po

 

Die Seventeen Lyrics by Li Po stellen die erste erhaltene Komposition von Harry Partch dar. 1942 schrieb Partch über diesen Zyklus:

„The six lyrics of Li Po are set to music in the manner of the most ancient of cultured musical forms. In this art the vitality of spoken inflections is retained in the music, eyery syllable and inflection of the spoken expression being harmoized by the accompanying instrument. The musical accompaniment, or, more properly, complement, in addition to being a harmonization, is an enhancement of the text-mood and frequently a musical elaboration of ideas expressed.

The 300 years of the T´ang dynasty produced China´s finest lyric poets. Li Po (701–762), born in eastern Shantung province, is considered by many scholars as the foremost of these „Golden Age“ poets. At about middle life Li Po was placed under imperial patronage, but at court he incurred the displeasure of Yang Kuei-fei, one of China´s famous beauties, and was banished to the Southern and Eastern provinces. It was after he learned of his impending exile that he had the dream which he recounts in his long poem so titled.

The first few lines of A Dream are purely introductory, the dream itself beginning with the line, The moon in the lake followed my flight ... His awakening, and the passing of the dream, Li Po compares to the waters of the river. The rivers of China, all bearing in a general eastern direction, have so capriciously held the power of life and death over the people that they quite naturally become symbols of human existence. As the dream vanishes, so must all pleasures of life: All things pass with the east-flowing water. Whatever parallels or analogies are obvious to the Chinese mind in the extravagant fantasies of the dream, to any hearer the fantasies serve to emphasize the reality of the awakening, the iminent exile, and the final lines: How can I stoop obsequiously and serve the mighty ones? It stifles my soul.

The 43-tone-to-the-octave system developed by Harry Partch is eminently appropriate to the subtle intonations that inhere in Li Po lyrics. In The Night of Sorrow the Adapted Viola anticipates each line of the lyric in the exact inflection pattern of the spoken words as Partch had interpreted them.“

 

Rainer Killius und Marc Sabat

Rainer Killius und Marc Sabat

 

Die Adapted Viola

Die „Adapted Viola“, adaptiert an die von Harry Partch entwickelten „Monophonie-Prinzipien“, unterscheidet sich von der gewöhnlichen Viola in folgenden Punkten:
Der Hals des Instruments ist länger, so daß Griffe im 43-tönigen System ermöglicht werden; in das Griffbrett sind Perlmutteinlagen und knopfartige Erhebungen eingesetzt, die das exakte Greifen der Intervalle erleichtern; gestimmt ist das Instrument eine Oktave tiefer als die Violine, der Tonumfang liegt also zwischen dem der Viola und dem des Cellos; die Adapted Viola wird mit einem Cellobogen gespielt, und die drei tieferen Saiten sind Cellosaiten.

Rechts: Schematische Darstellung des Griffbretts der Adapted Viola

 

Harry Partch

1901–1974. 1925 erstes Streichquartett in „Just Intonation“. 1927 Entwicklung der „Monophonic Principles“. Seit 1929 Bau von Instrumenten in neuen Stimmungen (Adapted Viola, Chromelodeon, Kithara, Chromatic Organ u. a.). 1934 Forschungsarbeiten am British Museum. 1935–43 als Hobo auf den Straßen Amerikas. 1949 Publikation des Buches „Genesis of a Music“. Ab 1960 rituelle Dramen und Opern.

"Partch detested the ‚inhibitory incubus of tight coats and tight shoes’; he abhorred the second-class-citizen idea of the orchestra pit and the obsessive formality of the concert stage. By elevating musicians from the pit onto the stage he dignified them socially while reminding them that they cannot hide from their own physical presence. By composing ritual dramas, he replaced the redundant formality of the concert stage with a more opaque alternative. By sidestepping most of the fashions of western composition he joined Charles Ives and John Cage as truly alternative musician-thinker. A pluralist in an age cursed by specialization, multi-cultural before it was de riguer, Partch, in his own way, may be considered a social reformer, an evangelist, and martyr. Ultimately, it is not so much what Partch did that is important, but what he stood for: there is no compromise in the search for truth, dig deep with passion and question assumptions to find the human strain. Anything else is an entirely different serving of tapioca.“ (Philip Blackburn)

  Griffbrett der Adapted Viola

 

 

 

 


 


 

Michael Pisaro: the collection

about his composition michael pisaro says: "the collection began as some very small ideas that i didn't know how to handle. they seemed perhaps too small to be pieces. is two notes a piece? is a scale? a gesture? ultimately, the decision as to whether the idea was a piece (a process that might take hours or months) was whether the idea was 'something.' so this is a collection of 'somethings,' like things found one day walking in the city or on the beach."

 

 

Michael Pisaro

michael pisaro was born in 1961 in buffalo. he studied with george flynn, ben johnston and alan stout. residences took him to the mishkenot sha'ananim (israel), and the birch creek music center (wisconsin). from 1987 to 2000 he was teaching at the northwestern university evanston (illinois). in 1996 michael pisaro was a guest-lecturer at 'eartalk' in lesbos (greece). his work is frequently performed in the us and and in europe, in music festivals and in many smaller venues. it has been selected twice by the iscm jury for performance at world music days festivals (copenhagen, 1996, and manchester, 1998. in 1997/98 he was an artist-in-residence at the künstlerhof schreyahn (germany). since 2000 he is teaching at the california institute of the arts. he is a composer and guitarist, and member of the wandelweiser composers ensemble.

Zur Site von Michael Pisaro: http://www.timescraper.de/komponisten/michael_pisaro.html

 

 


 

 

Natalia Pschenitschnikowa: Mumu

 

„Mumu“ ist ein Stück nach der gleichnamigen Novelle des russischen Schriftstellers Iwan Turgenjew. Geschrieben habe ich es für das Ensemble Zwischentöne, und es wurde von jedem Ensemblemitglied inspiriert. Sein Konzept ist die Konfrontation „ewiger“ literarischer Motive mit dem Klangpotential des Ensembles. Ich habe mit jeder Musikerin und jedem Musiker nach ganz spezifischen Klangfaktoren geforscht, die mit physischen und psychischen Störprozessen verbunden sind. So entstand die „Vertonung“ dieser wunderschönen musikalischen Prosa. Den folgenden Abschnitt der Novelle habe ich dem Alt auf Russisch und dem Tenor auf Deutsch zum Erzählen gegeben:

„Eine Stunde nach diesen Vorfällen ging die Tür des Kämmerchens auf, und Gerassim zeigte sich. Er hatte seinen Festtagsrock an und führte Mumu an der Leine. Jeroschka trat zur Seite und ließ ihn vorbeigehen. Gerassim lenkte seine Schritte zum Tor. Die Bengel und alle, die auf dem Hofe waren, folgten ihm schweigend mit ihren Blicken. Er kehrte sich nicht einmal um, seine Mütze setzte er erst auf der Straße auf. Gawrilo schickte ihm ebendenselben Jeroschka als Beobachter hinterher. Jeroschka sah von fern, wie er mit seinem Hund in einem Wirtshaus verschwand, und wartete, bis er wieder heraustrat. Im Wirtshaus kannte man Gerassim und kannte seine Zeichen. Er bestellte Kohlsuppe mit Fleisch und setzte sich, wobei er sich mit den Armen auf den Tisch stütze. Mumu stand bei seinem Stuhl und blickte ihn still mit ihren kleinen klugen Augen an. Ihr Fell glänzte schön, woran man erkennen konnte, daß sie eben erst gekämmt worden war. Man brachte Gerassim die Kohlsuppe. Er brockte Brot hinein, schnitt das Fleisch klein und stellte den Teller auf den Boden. Mit gewohnter Artigkeit, die Suppe kaum mit ihrer Schnauze berührend, machte sich Mumu ans Fressen. Gerassim schaute ihr lange zu; zwei dicke Tränen rollten plötzlich aus seinen Augen: die eine tropfte auf das steile Stirnchen des Hundes, die andere in die Kohlsuppe. Er bedeckte sein Gesicht mit der Hand. Mumu leerte den Teller zur Hälfte und wandte sich, das Maul leckend, zur Seite. Gerassim erhob sich, zahlte die Suppe und ging, begleitet von dem etwas erstaunten Blick des Kellners, hinaus. Als Jeroschka Gerassim erblickte, sprang er schleunigst hinter eine Ecke, ließ ihn vorbeigehen und folgte ihm wieder.

Gerassim ging ohne Eile seines Wegs, Mumu ließ er dabei nicht von der Leine. An einer Ecke der Straße verharrte er wie unentschlossen, und auf einmal eilte er mit großen Schritten direkt der Krimfurt zu. Unterwegs schwenkte er in den Hof eines Hauses ein, an dem gerade ein Seitenflügel angebaut wurde, und holte sich von da zwei Ziegelsteine, die er unter dem Arm trug. Von der Krimfurt wandte er sich zum Flußufer, das er bis zu einer Stelle entlangging, wo zwei kleine Ruderboote an Pflöcken angebunden waren – er hatte sie schon früher bemerkt –, er sprang in eins von ihnen und Mumu tat das gleiche. Irgendein lahmer Alter kam aus der Hütte hervor, die in der Ecke eines Gemüsegartens stand und schrie ihn an. Gerassim aber nickte nur mit dem Kopf und legte sich so mächtig in die Riemen, daß er, obgleich er gegen die Strömung des Flusses ruderte, im Handumdrehn an die hundert Klafter zurückgelegt hatte. Der Alte stand noch lange da, kratzte sich dann den Rücken zuerst mit der linken, dann mit der rechten Hand und kehrte schließlich hinkend in seine Hütte zurück.

Gerassim aber ruderte und ruderte. Schon hatte er Moskau hinter sich gelassen. Schon erstreckten sich längs der Ufer Wiesen, Gemüsegärten, Felder und Wälder; Bauernhütten lagen verstreut. Landluft wehte ihm entgegegn. Er ließ die Ruder fahren, drückte seinen Kopf an Mumu, die vor ihm auf einem trockenen Sitzbrett saß – der Boden war mit Wasser bedeckt –, und verharrte reglos, die mächtigen Arme über ihrem Rücken verschränkt, während die Fluten den Kahn sacht zur Stadt zurücktrugen. Schließlich richtete sich Gerassim auf, wand hastig, mit schmerzzerquältem, bitteren Gesichtsausdruck einen Strick um die mitgenommenen Ziegelsteine, legte eine Schlinge, streifte sie Mumu um den Hals, hielt sie über die Fluten und blickte sie ein letztes Mal an ... Zutraulich und ohne Furcht sah sie ihn an und wedelte leise mit dem Schwänzchen. Er wandte sich ab, schloß die Augen und löste die Hände ... Gerassim hatte nichts gehört, weder das kurze Aufwinseln Mumus beim Fall noch das schwere Klatschen des Wassers; für ihn war selbst der lärmende Tag so still und stumm wie für uns nicht einmal die stillste Nacht, und als er die Augen wieder auftat, spielten auf dem Flusse wie zuvor die kleinen Wellen, die einander nachzujagen schienen; wie zuvor plätscherten sie und pochten an die Planken des Bootes, und nur fern dahinten, dem Ufer zu, verloren sich die letzten weiten Ringe.“

Natalia Pschenitschnikowa, in: Klangwerkstatt 2000 – Neue Musik in Kreuzberg, Programmheft November 2000

 

 

N. Pschenitschnikowa: Mumu

Natalia Pschnenitschnikowa: Mumu

 

 


Natalia Pschenitschnikowa

Natalia Pschenitschnikowa wurde in Moskau geboren. Dort absolvierte sie zunächst die Zentrale Musikschule und dann das Tschaikowskij-Konservatorium. Danach arbeitete sie als Solistin und widmete sich insbesondere der Barockmusik auf historischen Instrumenten sowie der zeitgenössischen Musik und Improvisation.
Sie spielte auf verschiedenen internationalen Festivals, u. a. Moskauer Herbst, Huddersfield-Festival, Internationales Flötenfestival Helsinki, Alternativa Moskau, Berliner Festspiele, Kammermusikfest Lockenhaus, Aterforum Ferrara, Inventionen Berlin. Neben ihrer klassischen Konzerttätigkeit nimmt sie teil an multimedialen Performances (mit Alexej Sagerer, Dmitrij Prigow, German Winogradow, Christian Marclay, Peter Machjdik u. a.). Im Performance-Bereich realisiert sie außerdem unterschiedliche Soloprojekte. In den letzten Jahren hat sie sich als Vokalistin im experimentellen Bereich einen Namen gemacht. Außerdem ist sie Autorin verschiedenen Klangaktionen, konzeptueller Kompositionen und von Film- und Theatermusik.
Sie brachte mehrere für sie geschriebene Kompositionen zur Uraufführung, u. a. von Gija Kancheli, Johannes Fritsch, Daniel Matej, Bernhard Lang, Anna Ikramowa, Nic Collins, Peter Ablinger, Klaus Lang, Sergej Newski, Vadim Karassikov und arbeitete mit so unterschiedlichen Musikern wie Alexej Ljubimow, David Moss, Elsbeth Moser und Wladimir Tarassow zusammen. Von ihr liegen Schallplatten- und CD-Aufnahmen der Firmen Melodija, Art & Electronica, Col Legno und ECM Records vor.

 

Zur Site von Natalia Pschenitschnikowa: http://web-boettcher.uni-paderborn.de/natalia/natalians.htm

 

 


 

 

gerhard rühm: abhandlung über das weltall

 

der „abhandlung über das weltall“ liegt ein wissenschaftlicher vortrag über das weltall zugrunde, der in zunehmendem masse verschiedenen manipulationen unterworfen wird, bis er sich schliesslich von einem sachlich beschreibenden in einen ästhetischen text verwandelt hat, zu einem autonomen hörereignis wird.

der statistischen häufigkeit der phoneme entsprechend, saugen die häufigeren sukzessiv die selteneren auf, bis mit dem übrigbleibenden „e“ (dem häufigsten laut der deutschen sprache) die maximale entropie erreicht ist. die sprache ist, gemäss der voraussichtlichen entwicklung des weltalls, gleichsam den wärmetod gestorben. nach massgabe der wachsender entfernungen im universum emanzipiert sich der text zunehmend von der blossen beschreibung, wird also immer unverständlicher und zugleich elementarer. die lautgebilde werden bis zur unkenntlichkeit deformiert, verlieren schliesslich jeglichen bedeutungsgehalt und präsentieren sich als eigenständige phänomene jenseits der semantik.

eine weitere manipulation betrifft die raum-zeit-beziehung. ebenfalls dem weltall adäquat, dehnt sich der text aus, zerstäubt (nach einem prädeterminierten prinzip), die distanzen zwischen den auseinanderstrebenden elementen vergrössern sich kontinuierlich, die einzelnen elemente werden immer „einsamer“.

der unaufhaltsamen nivellierung und verflüchtigung wirkt jedoch, gleichsam als emotionale reaktion, die artikulation der menschlichen stimme entgegen: eine differenzierung der dynamik und des ausdrucks vom normalen sprechton bis zum flüstern und schreien.

gerhard rühm (2002), in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002

 

 

Das gespreizte „e“

Es gehört zu den Verdiensten der Avantgarde, sich des in Genres und Formen sicher ausgeprägten Systems der Kunst nicht einfach zu bedienen, sondern dieses auf seine Möglichkeiten und Gesetzmäßigkeiten hin zu befragen. Diese Haltung unterscheidet die wenige avancierte Musik von der großen Masse der bloß neuen, oftmals nicht einmal zeitgenössischen. Den feinen Übergängen zwischen Musik und Sprache nachzugehen, unternimmt das Ensemble Zwischentöne in seiner dreiteiligen Konzertreihe „Physiognomien des Lautens“, die heute im Ballhaus Naunynstraße beginnt.

Gerhard Rühm, Altmeister der experimentellen Sprach- und Textkomposition und Mitbegründer der Wiener Gruppe, bahnt sich zu Beginn den Weg von der Sprache zur Musik. In seiner dreiviertelstündigen „Abhandlung über das Weltall“ (1964/66) verdrängen in einem populärwissenschaftlichen Vortrag die statistisch häufigeren Phoneme nach und nach die selteneren, bis schließlich das 28mal wiederholte, durch lange Pausen gespreizte „e“ übrigbleibt. So verwandelt sich Sprache zu klingendem Material. Den inneren Monolog der Opern-Arie nimmt Michael Hirsch in seiner 2. Studie zum „Konvolut, Vol. 2“ wörtlich als von den Darstellern stumm vollzogenen Text, aus dem nur einzelne Fragmente kurz herausplatzen. Peter Ablinger betrachtet in seinen knappen, heute uraufgeführten „Studien nach der Natur“ Alltagsgeräusche vom Autoverkehr bis zum Mückensummen, die sechs Sänger nach genau ausnotierter Partitur klanglich nachahmen. Zusammen mit Werken von Josef Anton Riedl und Harry Partch entsteht so ein abwechslungsreiches Kompendium avancierter Sprachbehandlung.

Volker Straebel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Berliner Seiten, 15. Juni 2002

 

 

 

Gerhard Rühm

gerhard rühm: abhandlung über das weltall

 

 

bemerkungen zur lautdichtung

die konsequente lautdichtung oder „phonetische poesie“ ist die einzige wirklich internationale, das heisst, keine übersetzung benötigende gattung der literatur wenn auch in der artikulation des vortragenden noch spuren der typischen färbung seiner muttersprache vernehmbar sind. selbst regionale unterschiede der aussprache können sich noch bemerkbar machen (im deutschen etwa beim „r“ eines bayern und dem eines norddeutschen).

durch die freisetzung der phoneme aus dem geregelten wortverbund und damit den verzicht auf semantik, verfügt die lautdichtung über einen nahezu unbeschränkten vorrat nuanciertester lautelemente, die durch verwendung mehrerer stimmen (simulteneität muss nicht mehr auf wortverständlichkeit achten) sowie die nutzung technischer hilfsmittel polyphon verdichtet und weiter differenziert werden können.

die meisten meiner lautgedichte, die nur für einen sprecher konzipiert sind, beschränken sich auf noch erkennbare sprechlaute, sparen also darüber hinausgehende mund- und körpergeräusche aus. so bleibt ein wenn auch rudimentärer, gleichwohl emotional nachvollziehbarer sprechgestus gewahrt. zudem kommt der spezifische ausdruckscharakter der verschiedenen laute, der normalerweise durch ihre dienende rolle als bedeutungsträger verblasst, wieder in seiner ursprünglichen präsenz unmittelbar zur geltung.

im interesse einer klaren terminologie sollte innerhalb der zum vortrag, zum hören bestimmten „auditiven poesie“ grundsätzlich unterschieden werden zwischen klanggedichten („sound poetry“), die ausdrücklich dem rhythmischen klangkörper des gesprochenen wortes verpflichtet sind, und lautgedichten („phonetic poetry“), deren kompositionsmaterial der einzellaut mit seinen nun allseitig offenen kombinationsmöglichkeiten ist.

wie die ungegenständliche bildnerei einen eigenständigen bereich innerhalb der bildenden kunst repräsentiert, so die lautdichtung als asemantische poesie in der dichtung. da wie dort sind, auf der gemeinsamen basis allgemein verbindlicher physiognomik, mannigfaltige zwischen- und mischformen denkbar.

das visuelle pendant zur „phonetischen poesie“ ist in der optisch orientierten „visuellen poesie“ die „typografische poesie“ als rigorose reduktion auf buchstabenformen – von der handschrift bis zur druckschrift.

gerhard rühm

 


 

 

gerhard rühm: zeitung – stets aktuelles simultanstück (kurt schwertsik gewidmet)

 

die jeweils aktuelle tageszeitung wird in gleich grosse teile (etwa postkartenformat) gerissen und an die ausführenden (mindestens vier) verteilt. jeder notiert, nachdem er die vorder- oder rückseite gewählt hat, in der ecke des blattes fortlaufend (siehe unten) die wartezeit zu seinem (lese)einsatz und die lautstärke. sodann werden die blätter gemischt. nach dem startzeichen zählt jeder stumm die wartezeit seines erten blattes ab, liest dan den text von beginn an (auch wenn er auf ein wortfragment fällt) in der angegebenen lautstärke vor und lässt es nach dem ersten erscheinen des wortes „und“ (dieses wird noch mitgesprochen) fallen. darauf wird mit dem nächsten und allen weiteren blättern ebenso verfahren. normales sprechtempo.

wartezeiten: 5 sec., 10 sec., 15 sec., 20 sec., 30 sec., 50 sec. lautstärken: geflüstert (pp), leise (p), normal (mf), laut (f), geschrien (ff).

gerhard rühm, 1962

 

 

gerhard ruehm: zeitung

gerhard rühm: zeitung (Probenphoto)

 

 

Gerhard Rühm

Gerhard Rühm, geboren 1930 in Wien, studierte Klavier und Komposition an der Wiener Musikakademie, danach privat bei Josef Matthias Hauer, und beschäftigte sich während eines längeren Aufenthalts im Libanon mit orientalischer Musik. Mitte der fünfziger Jahre war er Mitbegründer der „Wiener Gruppe“ (Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener), der 1997 eine grosse Retrospektive in der „Biennale di Venezia“ ausgerichtet wurde. Rühm wurde zuerst durch Buchveröffentlichungen experimenteller Poesie bekannt. Von Anfang an aber intermedial orientiert, entwickelte er Dichtung vor allem in Grenzbereichen weiter – sowohl zur bildenden Kunst (visuelle Poesie, gestische und konzeptionelle Zeichnungen, Fotomontagen, Buchobjekte) als auch zur Musik (auditive Poesie als Sprech- und Tonbandtexte, Chansons, Melodramen, Vokalensembles, Ton-Dichtungen). Sein Wirkungsbereich umfasst literarische, musikalische und bildnerische Publikationen (u. a. bei Rowohlt, Luchterhand, Hanser, Residenz, Haymon), Vorträge, Konzerte, Ausstellungen, Theateraufführungen und Rundfunkproduktionen (wichtige Beiträge zum „Neuen Hörspiel“, Karl-Sczuka-Preis 1977, Hörspielpreis der Kriegsblinden 1983). Österreichischer Würdigungspreis für Literatur 1976, Preis der Stadt Wien 1984, Grosser Österreichischer Staatspreis 1991. Umfassende Präsentation seiner Arbeit beim Steirischen Herbst Graz 2001.

Rühm lehrte 1972-1995 als Professor an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste in Hamburg sowie mehrmals an der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst in Salzburg.

Klavierstücke, Lieder und Melodramen erschienen im Thürmchen Verlag Köln und in der ORF-Edition Zeitton, Hörspiele auf CD bei Wergo.

 

 

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