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Komponisten / Stücke K – N

 

Rainer Killius: Verwehungen I: lass dy punct lawffen

 

Verwehungen I ist das erste einer Reihe von Stücken für Ensemble mit beliebig vielen Spielern. In diesem Zyklus geht es um zweierlei: erstens, eine spezifische Art der Klangerzeugung (gestrichene Saite, geschlagene Metallplatte etc.) gleichermaßen elementar und höchst differeziert zu erspüren und hörbar zu machen; zweitens, verschiedene Schichten einer Musik übereinander zu legen, die sich aus unterschiedlichen Graden der Spielfertigkeit ergeben. Ein und dieselbe Person kann auf dem einen Instrument ein Virtuose sein, auf dem anderen vielleicht ein einfaches Stück spielen, und auf dem dritten gerade einmal einen Ton hervorbringen.

Im Vertrauen auf eine grundsätzlich vorhandene Neugier jedes Spielers – gleich welcher Fertigkeit – schreibe ich somit mehrere unterschiedlich ausdifferenzierte Fassungen und lege sie übereinander. Dabei entsteht der Eindruck einer Haupt- oder Mittellinie, die immer wieder verwischt oder auch gebündelt wird.

Im vorliegenden Stück ist es die Solo-Stimme (im wörtlichen Sinn), die sich durch Tagebuchaufzeichnungen und Notizen von Albrecht Dürer (1471-1528) einen Weg bahnt.

Rainer Killius, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002

 


Rainer Killius

Geboren 1969, studierte Querflöte und Musiktheorie in Freiburg, anschließend Komposition in Frankfurt/M. Private Gesangsausbildung in Freiburg und Berlin. Lebt seit 1996 als freischaffender Komponist, Interpret und Musikpädagoge in Berlin. Arbeitet ebenfalls in den Bereichen Korrepetition, Schauspiel (1997/98 im Theater „Fürst Oblomov“) und Rezitation (z. B. in Eroberung von Mexico von W. Rihm, Pierrot lunaire von A. Schoenberg, Ein Hauch von Un-Zeit in der BKA Berlin und Jean Cocteaus Die Hochzeit auf dem Eiffelturm im Bauhaus-Archiv Berlin).
1999 freier Mitarbeiter beim Theaterpädagogischen Dienst Berlin. Dozent für Musik und Stimmbildung an der „berliner schule für schauspiel“. Mitglied im Ensemble Zwischentöne von 1997 bis 2002 und in Amphion.Consort (Vokalmusik der Renaissance, seit 1999).

 

 

 


 

Bernhard Lang: schrift 1.2

 

über schrift 1.2

in den stücken „versuch über das vergessen“ und „icht“ begann ich, streng algorithmisch organisierte strukturen mit einer art kritzelschrift zu übermalen. diese kritzeleien wurden einerseits durch christian loidls schreibtechniken, andererseits durch die improvisationssessions mit dem ensemble „picknick mit weismann“ angeregt. sie stellen den versuch eines schreibenden improvisierens dar.

bald überwog das interesse an eben diesen schriften dasjenige an konstruktiv komponierten musikalischen strukturen, den „basteleien“.

„schrift 1“ war das erste stück dieser neuen serie, „schrift 1.2“ stellt eine spätere überarbeitung und neunotation dar.

bernhard lang wien 290402, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002

 

 

 

Zur Site von Bernhard Lang: http://members.chello.at/bernhard.lang/

 

 


 

 

Klaus Lang: der weg des prinzen III / frösche.berge.

 

fische.sterne.

1

Die beste Art Fisch zu kochen ist ihn nicht zu kochen. Das in Japan vielleicht beliebteste Gericht ist sashimi, also kunstvoll geschnittener und arrangierter roher Fisch.

Die Kunst der Zubereitung von sashimi besteht nicht darin, den rohen Fisch als Ausgangsmateriel zu verarbeiten und zu kochen, und ihn dadurch zu verändern, sondern darin, rohen Fisch auszuwählen, ihn zu schneiden, zu kombinieren und zu arrangieren. Der Koch verändert den Fisch nicht und fügt ihm nichts hinzu. Er ermöglicht die Entfaltung des Gegebenen, dessen, was schon von vorneherein im Fisch vorhanden war, und macht es dem Gaumen zugänglich.

Der Eindruck, den Fisch auf die Geschmacksorgane macht, ist einerseits von der Stärke der abgeschnittenen Fischstücke, andererseits von der Art des Schneidens abhängig. Das Schneiden von Fisch hat sich zu einer strengen Regeln folgenden Kunst mit langer Tradition entwickelt. Die entscheidenden Parameter sind hierbei Schneidedruck, Schneidestelle, Schneidegeschwindigkeit.

2

Unaussprechlich schön ist die leuchtende Klarheit der Sterne in den Dunkelheiten des Universums. Verloren steht man der unfaßbaren Komplexität der Himmelsgeometrie gegenüber und doch: drei Buchstaben reichen aus, um eine der wichtigsten Theorien über das Universum zu formulieren. Dagegen ist, wie man an den Pfützen im Schlamm sieht, Dunkelheit keineswegs ein sicheres Zeichen von Tiefe, genausowenig wie Kompliziertheit. Eleganz und Einfachheit zeichnen wichtige physikalisch-mathematische Formeln aus, ihr Ziel ist es das Komplexe mit einfachen Mitteln zu beschreiben oder zu erzeugen.

Klaus Lang, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002

 

 


 


Klaus Lang: der weg des prinzen II / martian pingus

 

Klaus Lang im BKA
von Volker Straebel

Klänge an der Grenze des Verstummens hat uns die Neue Musik vor allem seit der viele Komponisten prägenden Erfahrung der äußerst leisen Werke Morton Feldmans in großer Fülle beschert. Doch nur selten fügt sich dieses Material in musikalische Strukturen, die weder epigonal dem Vorbild folgen noch in zermürbender Reduktion das Verschwinden der Musik selbst zelebrieren. Dem knapp dreißigjährigen Klaus Lang hingegen gelingt es, die Erfahrung des fast unspielbar Leisen in die Musik zurückzuholen.

Im BKA widmete das Ensemble Zwischentöne unter Peter Ablinger dem aus Graz nach Berlin übergesiedelten Lang ein Portraitkonzert und brachte mit „der weg des prinzen II / martian pingus“ (2000) den vom Senat erteilten „Berliner Kompositionsauftrag 1999“ zur europäischen Erstaufführung. Das zwanzigminütige Werk für Flöte, Tenor-Saxophon, Frauenstimme, Vibraphon, Kunststofflaschen, Viola und Bandoneon folgt der gleichen Form wie das Schwesterstück „der weg des prinzen I / die sieben Boten“ (1996) für die gleiche Besetzung. Hier wie dort agierten die im Raum verteilten Musiker an der Grenze der Spielbarkeit leise und erzeugten so eine ungewohnt spröde Klanglichkeit, die aus den physikalischen Eigenschaften der Instrumente resultiert. Streicherklänge verleugnen ihre Tonhöhe im hohen Rauschanteil, Saxophon und Stimme verwandeln wegen ihres Einschwingverhaltens extrem leise Liegetöne in zufällig strukturierte Impulsketten. So changieren die Einzelklänge stark und werden an ihren Grenzen flexibel. Damit korrespondiert besonders in „martian pingus“ ein jede Festigkeit scheuendes, an reinen Stimmungssystemen orientiertes harmonisches Denken. Durch den Raum springende, nur kurz angespielte Zentraltöne finden sich nur selten zu Intervallen oder Wechselnoten.

Die Musiker dienen dieser riskanten und sensiblen Musik mit Hingabe. Herausragend Normisa Pereira da Silva, die in dem achtminütigen Flöten-Solo „der herr der insel“ (1999) den wenigen Liegetönen des ersten und den impulshaften Morseklängen des zweiten Teils in ungeahnten Resonanzräumen nachspürte. Selbst den auskomponierten Klappengeräuschen weiß sie sinnliche Qualität abzugewinnen.

Volker Straebel, verändert und unter dem Titel "Suchbild mit Ton: Portraitkonzert des Komponisten Klaus Lang" veröffentlicht in: Der Tagesspiegel, 10. Dezember 2000

 

 

 

K. Lang: martian pingus

Klaus Lang: der weg des prinzen II / martian pingus (Ausschnitt), © Zeitvertrieb Wien Berlin

 

 

Töne tupfen – Das Ensemble Zwischentöne mit drei Stücken von Klaus Lang
von Jürgen Otten


Ein Besuch der Reihe „Unerhörte Musik“ in der Berliner Kabarett Anstalt, kurz BKA, erinnert nicht selten an Konsaliks Weltkriegsroman „Sie waren zehn“. Während es jedoch in der fiktiven Geschichte um zehn wagemutige Helden geht, die für das Gute in der Welt kämpfen, meint der Titel im BKA-Fall gewöhnlich die Zahl der Zuschauer. So schön das Ambiente auch ist, so interessant mitunter das jeweilige Konzertprogramm – als Ort der neuen Musik wird der schlauchige Saal mit seinen hübschen Tischen und bequemen Sesseln nur von sogenannten Insidern akzeptiert. Und frequentiert.
Am Dienstagabend bietet sich dem Gast ein etwas besseres Bild. Rund dreißig Zuhörer haben sich versammelt, um dem von Peter Ablinger geleiteten Ensemble Zwischentöne bei seinen Darbietungen zu lauschen. Der Grund für diese doch enorme Steigerung ist der aufgeführte Komponist: Klaus Lang, gebürtiger Grazer, aber seit längerem als freischaffender Komponist und Organist in Berlin ansässig, ist mehr als nur ein Geheimtip in der Szene. Fast könnte man behaupten, er zählt schon zu den Arrivierten. Wohl auch deswegen hat er den „Berliner. Kompositionsauftrag 1999“ der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur erhalten. Das von Lang daraufhin in Töne gesetzte Opus „der weg des prinzen II / martian pingus“ – Langs Liebe zum Literarischen durchzieht seine Werkliste wie ein roter Faden – erlebt an diesem Abend seine europäische Erstaufführung.

Das Schöne an diesem Stück, überhaupt an Langs Musik, ist, daß man sie, wie wir auf dem Programmzettel lesen, nicht analysieren kann – und wohl auch nicht soll. Man soll diese Musik nur hören, an sich vorbeiziehen lassen, ihre suggestive Aura genießen. Der Komponist selbst hat einmal ein ästhetisches Bekenntnis abgelegt, das sich mit dieser Einschätzung deckt: „Meine Musik: Ich schreibe Töne auf. Musiker spielen oder singen diese Töne. Zuhörer hören zu.“ So einfach kann Musik sein.

In der Tat: Langs neues Opus, das als dritter Teil eines klingenden Triptychons beschrieben werden kann – die beiden anderen Teile heißen „der weg des prinzen I / die sieben boten“ für Ensemble (als linkes Bild) und „der herr der insel“ für Flöte solo (als Mittelachse), alle Teile gehen bruchlos, attacca ineinander über – , ist, ganz anders als sein prosaischer Titel, einfach. Es ist sogar so einfach, daß dagegen selbst Feldmans virtuose Redundanzen wie ein hochspannendes und abwechslungsreiches Erlebnis wirken. Diese Musik ist eine Musik der Stille in der Stille. Über die Stille. Und sie erfordert die Stille. Denn auch nur das kleinste Nebengeräusch würde wie ein Bombe in diese nachgerade karstige Klanglandschaft hineinplumpsen und einen riesigen Krater in die Erde reißen. Rascheln ist verboten, um nicht die Intensität aufzuheben.

Die Konzentration auf das Leise allein ist es nicht, die Langs Musik, so man sie denn mag, auszeichnet. Im besten Sinne ist diese Musik auch eine räumliche: Das Prinzip Guckkastenbühne wird aufgehoben, die Instrumente und ihre Spieler sind im Raum verteilt: Vibraphon, Stimme, Bandoneon, Violine, Plastikflaschen (!), Saxophon und Flöte umzingeln den Hörer. Sie lassen ihn aber zugleich in Ruhe, weil sie über ein zartes Pianissimo kaum heraustreten und ohnehin nur in Abständen Töne in die Stille hineintupfen wie winzige Farbflecken auf eine Leinwand.

Von einer dramaturgischen Entwicklung im eigentlichen Sinne (sagen wir: im Sinne Beethovens) kann man also bei Langs Musik keineswegs sprechen. Höchstens von einem kaum merklichen Vibrieren des Klangs. Die Hörgeister scheiden sich daran. Für den einen ist das, was passiert, schlicht langweilig, weil es den konventionellen Erwartungen an Geschehen nicht entspricht, für den anderen bedeutet es reine Konzentration. Das Ensemble Zwischentöne jedenfalls spielt konzentriert. Doch nicht ganz perfekt.

Jürgen Otten, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Berliner Seiten, 7. Dezember 2000

 

 

 

Klaus Lang

Klaus Lang

 

 

Zur Site von Klaus Lang: http://ourworld.compuserve.com/homepages/KlausLang1/

 

 

 


 


Alvin Lucier: Heavier than Air

Seit vielen Jahren möchte ich einen Weg finden, Klänge zu fokussieren. Schallwellen, besonders lange (von tiefen Tönen), breiten sich im Raum in annähernd konzentrischen dreidimensionalen Kreisen aus. Eine Möglichkeit sie zu fokussieren besteht darin, eine akustische Linse herzustellen, indem man eine dünnwandige Kugel mit einem Gas füllt, das schwerer als Luft ist. Wenn eine Schallwelle die Kugel passiert, verlangsamt sie sich in ihrem Zentrum stärker als an den Rändern, wodurch die Welle auf der anderen Seite der Kugel abgeflacht wird. Diese flache Welle tendiert dazu, gerichtet zu sein.

In Heavier than Air wird eine beliebige Anzahl von Luftballons mit Kohlendioxyd gefüllt. Während der Aufführung flüstern beliebig viele Performer in diese Linsen, die sie unterschiedlich ausrichten. Auf diese Weise wandern die Klänge und lassen sich an verschiedenen Orten im Raum nieder.

Heavier than Air wurde für das Berliner Ensemble Zwischentöne komponiert. Der Komponist möchte darauf hinweisen, daß die Komponistin Judy Dunaway ihm bei diesem Werk assistiert hat.

Alvin Lucier, April 1999

 

Alvin Lucier: Heavier than Air

For many years I have wanted to find a way to focus sounds. Sound waves, especially long ones (low sounds), spread out in space roughly in concentric three-dimensional circles. One way to focus them is to make an acoustical lens by filling a sphere with a thin membrane with a heavier than air gas. As a sound wave passes through the sphere it slows down more in the center of the sphere than on the sides, flattening out the wave on the other side. This flat wave tends to be directional.

In „Heavier than Air“ any number of balloons are filled with carbon dioxide. During the course of the performance any number of performers whisper into the lenses, aiming them in various directions. As they do so, the sounds move around and locate themselves in various parts of the room.

„Heavier than Air“ was composed especially for the Zwischentöne Ensemble, Berlin. The composer wishes to acknowledge the assistance of composer Judy Dunaway in the making of this work.

Alvin Lucier, April 1999

 


Resonanzen – Das Alvin-Lucier-Festival in Berlin

[...] Beim Stück „Vespers“ werden mehrere Impulsgeneratoren im Raum bewegt und dabei in ihrer Richtung verändert, so daß der Zuhörerer die knackenden Impulse hört und ihre je nach den Entfernungen und Richtungen zu den reflektierenden Wänden des Raums und zum Hörer verschieden kurze oder lange Echos entstehen. Das Berliner Ensemble Zwischentöne, das auch „Vespers“ effektvoll wiedergab, bewerkstelligte mit „Heavier than Air“ – schwerer als Luft, also – die einzige Uraufführung dieses kleinen Lucier-Festivals. Vielleicht zeigt dieses Stück bei seiner ersten Wiedergabe etwas bei den älteren Stücken kaum mehr Wahrnehmbares, eine noch nicht ganz befriedigende Form. Eine Reihe von Sprechern, die einen mit Kohlendioxyd gefüllten Luftballon vor den Mund halten, flüstern kleine eigene Texte vom Typ „Ich erinnere mich an ...“ und ändert dabei Richtung und Abstand zum Ballon. Das Kohlendioxyd, das in seinem spezifischen Gewicht schwerer als Luft ist, bündelt dabei den Schall etwas, wie eine Linse das Licht. Allerdings bremst auch die Ballonhaut den Schall und der Unterschied zwischen dem, was direkt durch die Luft zu hören ist, und dem, was durch die mit Kohlendioxyd gefüllten Ballons ans Ohr dringt, ist geringer als die Unterschiede in Lautstärke und Artikulation zwischen den beteiligten Sprechenden. Ich denke, Alvin Lucier und seine auf mit schweren Gasen gefüllte Luftballons spezialisierte Assistentin Judy Dunaway werden die Wahrnehmbarkeit des Stücks – vielleicht mit elektroakustischen Mitteln – noch zu verbessern suchen. [...]

Reinhard Oehlschlägel, MusikTexte – Zeitschrift für Neue Musik, Heft 79

 

 


 


Alvin Lucier: Silver Streetcar for the Orchestra

 

[...] Als ich auf der Portsmouth Priory School war, einem Konvikt der Benediktiner – kein Priesterseminar, sondern eine Schule, in der man aufs College vorbereitet wird – brannte ein benachbartes Trappistenkloster ab. Die Mönche kamen nach Portsmouth und schliefen in der Turnhalle. Ich kann mich erinnern, daß ich in die Kapelle ging und einen Mönch beten sah, wie ich es vorher noch nie erlebt hatte. Er wirkte überhaupt nicht fromm. Seine Augen waren geöffnet, er sah aus, als ob er denke. Die Trappisten sind ein kontemplativer Orden. Kontemplation und Meditation sind sich ähnlich, aber nicht ganz das gleiche. Dann ging ich hinaus, und als ich ein oder zwei Stunden später wiederkam, hatte er immer noch genau die gleiche Haltung. Ich hatte dieses Bild von einem Menschen, der wirklich dachte. Klar und rein, wenn es so etwas gibt. Wenn man reines Denken denken würde – ich weiß nicht, ob es das gibt – doch wenn es überhaupt etwas wäre, würde er es gedacht haben. Dieses Bild hat mich sehr beeindruckt. Jener Priester war überhaupt nicht fromm, er tat einfach etwas sehr Wirkliches.
Kennst du den Künstler Robert Irwin? Manche finden, daß meine Arbeit der seinen ähnlich ist. Er macht Objekte, die nicht zum Inhalt haben, was du siehst, sondern wie man sich selbst beim Sehen wahrnimmt. So verlegt er den Brennpunkt des Werkes. Das Werk ist nicht dort draußen; es existiert an dem Ort, an dem man sich seiner selbst als wahrnehmend gewahr wird. [...]

Alvin Lucier in einem Gespräch mit James Tenney im Sommer 1988

 

 

[...] Ganz anders das Performancestück „Silver Streetcar for the Orchestra“ für Triangel von Alvin Lucier. Etwa zehn Minuten lang drosch der Schlagzeuger rapide die Triangel – Tempo, Dämpfung und Anschlag immer leicht modifizierend. Fast aus dem Nichts entstand dabei ein fiepsender Liegeklang, indem sich die raschen, harten Schläge im resonierenden Aktionsraum des Hamburger Bahnhofs schichteten. Dieser Klang gab dem „Blick nach draußen“ einen weiteren Dreh, hin auf ein verdrängtes und verbotenes Draußen, das Hans-Peter Dürr in seinem Buch „Traumzeit“ für verschüttet erklärte. Ein Draußen jenseits des Zauns, auf dem einst die Hexe als Hüterin der Schwelle zur Wildnis saß und nun Alvin Lucier als Herrscher über die Magie der Klänge thront.

Björn Gottstein, die taz, berlin-kultur, 11. Juni 2001

 

 


 

 

Alvin Lucier: „I am sitting in a room“

 


Wählen Sie einen Raum, dessen musikalische Qualitäten Sie zur Entfaltung bringen möchten. Verwenden Sie folgenden Text oder irgendeinen anderen Text beliebiger Länge:

„I am sitting in a room different from the one you are in now.
I am recording the sound of my speaking voice and I am going to play it back into the room again and again until the resonant frequencies of the room reinforce themselves so that any semblance of my speech, with perhaps the exception of rhythm, is destroyed.
What you will hear, then, are the natural resonant frequencies of the room articulated by speech.
I regard this activity not so much as a demonstration of a physical fact, but more as a way to smooth out any irregularities my speech might have.“

Realisieren Sie Versionen mit einem oder mehreren Sprecher/innen verschiedener Sprachen in verschiedenen Räumen.
Realisieren Sie Versionen, in denen für jeden Durchlauf der Standort des Mikrophons im Raum oder in den Räumen verändert wird.
Realisieren Sie Versionen, die live aufgeführt werden können.

Alvin Lucier

 

 

[...] Das trifft zum Beispiel auch auf eines seiner berühmtesten Stücke, auf „I am sitting in a room“ von 1970 zu, mit dem das Festival am gleichen Ort beendet wurde. Der Komponist sitzt im Raum vor einem Mikrophon, spricht einen Text, der, beginnend mit „I am sitting in a room“, das beschreibt, was er da gerade tut. Über das Mikrophon wird der Text mit einem Tonband aufgenommen, das mit Umlenkrollen zu einem zweiten Tonbandgerät geleitet und wieder in den Raum abgespielt wird. Das zweite Gerät ist so weit vom ersten entfernt, daß die Wiedergabe erst beginnt, wenn der Text einmal ganz vorgetragen ist. Die Wiedergabe aber läßt nicht nur den Text noch einmal hören, sondern dazu die Resonanzklänge des Raums. Bei der Wiedergabe über die im Raum verteilten Lautsprecher wird der Text wiederum aufgenommen und so weiter. Und der Raumresonanzanteil wird von Mal zu Mal größer, bis er überwiegt und schließlich den Text in den Hintergrund treten läßt. Zu den akustischen Eigenschaften eines Raums gehören seine Resonanzen und der Nachhall, die beide durch das Stück mehr und mehr wahrnehmbar werden. In diesem Fall bis zu Entstehung einer Folge sehr hoher – wenn man so will: schöner – Obertonklänge.

Die Erscheinungsformen der Wahrnehmung kaum oder unhörbarer Phänomene selbst aber sind nicht immer schön, sie sind wie sie sind, sind vielleicht sogar Nebensache. Wie verschieden Räume klingen können und wie verschieden die Anordnung von Sprecher, Mikrophon und Lautsprechern gehandhabt werden kann, zeigte das gleiche Stück in einer deutschsprachigen Tonbandversion von Ellen Fricke und Andreas Baumeister zu Beginn des dritten Konzerts, die den Glockenraum der Parochialkirche wiederspiegelt. [...]

Reinhard Oehlschlägel, MusikTexte – Zeitschrift für Neue Musik, Heft 79

(Die Fortsetzung dieser Kritik von Reinhard Oehlschlägel findet sich hier)

 

 

 

Text der deutschsprachigen Tonbandversion

„Ich sitze in einem Raum, der nicht der Raum ist, in dem Sie gerade sind.
Direkt über Ihnen im Glockenraum nehme ich meine Sprechstimme auf und spiele sie ab, nehme sie auf und spiele sie ab, immer wieder – bis die Resonanzschwingungen des Raumes sich selbst verstärken, so daß jede Ähnlichkeit mit dem Sprechen, außer vielleicht mit dem Rhythmus selbst, ausgelöscht wird.
Was Sie dann noch hören, sind die natürlichen Resonanzschwingungen des Raumes, gegliedert durch das Sprechen.
Diese Handlung ist für mich weniger die Demonstration eines physikalischen Sachverhaltes, als vielmehr eine Weise, jede Art von Sinn, die mein Sprechen noch aufweist, auszulöschen.“

Transposition: Ellen Fricke

 

 

 


 

 

Vespers
für eine beliebige Anzahl von Spielern, die allen Lebewesen ihren Respekt bezeugen möchten, die das Dunkel bevölkern und im Laufe der Zeit eine große Genauigkeit in der Echo-Ortung entwickelt haben, das heißt in der Kunst, Töne als Kundschafter zu benutzen, die in die Umgebung ausgesandt als Echo zurückkehren und Aufschluß über die Gestalt, Größe und materielle Beschaffenheit dieser Umgebung und der in ihr befindlichen Gegenstände vermitteln (1968)

Dieses Stück ist in der Dunkelheit, drinnen, draußen oder unter Wasser zu spielen; in schwach beleuchteten Räumen sollen Sonnenbrillen und in hell erleuchteten Räumen Augenbinden getragen werden. In leeren Räumen können Objekte aufgestellt werden, zum Beispiel aufeinandergestapelte Stühle, große Pflanzen oder Menschen.

Rüsten Sie sich mit Sondols (von SONar DOLphin „Delphin-Echolot“) aus, das heißt mit tragbaren Geräten zur Echo-Ortung, die kurze, scharfe, eng gebündelte Klicklaute abgeben, deren Repetitionsgeschwindigkeit manuell gesteuert werden kann.
Machen Sie sich die Aufgabe zu eigen, sich über das Gehör zu orientieren, indem Sie die Umgebung akustisch abtasten und die Verän-derung im Verhältnis zwischen den ausgesandten und den zurückkehrenden Klicklauten genau verfolgen. Durch Veränderung der Repetitionsgeschwindigkeit der ausgesandten Klicksignale, das heißt mit demjenigen Tempo als Bezugspunkt, bei dem die zurückkehrenden Klicksignale die Abstände zwischen zwei ausgesandten Klicksignalen genau halbieren, können Entfernungen gemessen, Oberflächen hörbar gemacht und klare Abbilder des räumlichen Umfelds erzeugt werden. Durch Veränderung des Winkels, unter dem die Klicklaute auf eine reflektierende Oberfläche treffen, lassen sich Mehrfach-Echos mit unterschiedlichen Tonhöhen erzeugen und zu verschiedenen geographischen Punkten im Raum lenken. Die Abtastbewegungen sollten dabei langsam, kontinuierlich und nicht-repetitiv sein.

Bewegen Sie sich als nicht-menschliche Wanderer, Daten erfassende Roboter oder als langsame, zeremonielle Tänzer. Entdecken Sie mögliche Wege zu einem bestimmten Ziel, finden Sie freie Durchgänge zu einem Mittelpunkt oder zu äußeren Begrenzungen, und versuchen Sie dabei, Hindernisse zu umgehen.

Tauchen Sie mit den Walen, fliegen Sie mit bestimmten Nachtvögeln oder Fledermäusen (besonders mit der in Europa und Nordamerika verbreiteten Fledermaus aus der Familie Vespertillionidae), oder nehmen Sie die Hilfe anderer Experten in der Kunst der Echo-Ortung in Anspruch.
Tätigkeiten wie Billardspielen, Squashspielen oder Wasserlaufen können durchaus als wesensverwandte Ausführungen dieses Stückes betrachtet werden.

Alvin Lucier

 

 


 


(Berlin) Memory Space
für eine beliebige Anzahl von Vokalisten und Instrumentalisten (1970)

Gehen Sie hinaus – in städtische oder ländliche, lebensfeindliche oder -begünstigende Umgebungen und halten Sie auf irgendeine Weise (in Ihrem Gedächtnis oder mit Hilfe von schriftlichen Aufzeichnungen oder Tonbandaufnahmen) die akustischen Verhältnisse an diesen Orten fest. Wenn Sie zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt zur Aufführung in einem Innenraum zurückkehren, bilden Sie ausschließlich durch Ihre Stimmen oder Instrumente und mit Hilfe von Erinnerungsstützen (ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen, ohne zu improvisieren oder zu interpretieren) diese akustischen Verhältnisse von draußen nach.

Wenn Kassettenrecorder als Erinnerungsstützen benutzt werden, sind Kopfhörer aufzusetzen, um eine Vermischung der aufgenommenen mit den nachgebildeten Klängen zu vermeiden.

Bei Aufführungen, die nicht in Hartford stattfinden, ist dem Titel der Name des Aufführungsortes in Klammern voranzustellen.

Alvin Lucier

 

 


 

 

 

Nader Mashayekhi: blanks 2

Wenn ich mich an die Zeit erinnere, in der ich „blanks 1 und 2“ gemacht habe, blicke ich auf eine Periode meines Lebens, die ich als Nicht-Denken-Periode bezeichnen möchte. Ich hatte das Gefühl, ich bewege mich neben der Alltagszeit. Wenn man mich gefragt hätte, woran ich gerade denke, hätte ich geantwortet: an nichts. Und doch bin ich stundenlang stumm gesessen, als ob ich an etwas Bestimmtes gedacht hätte. Später merkte ich, daß solche Perioden in meinem Leben ziemlich regelmäßig vorkommen. Dann fangen die Gedanken an aufzutauchen, und oft so dicht aneinander, daß ich es als gleichzeitig bezeichnen möchte, als ob ich mehrere Ebenen, mehrere Zeiten zur Verfügung hätte. Ich glaube jetzt, das ist ein besonderes Privileg, in solchen Zeiten aus der universalen Zeit aussteigen zu können, um eine andere Zeit zu erleben. Ein Privileg, welches meistens hohe Kosten hat.

Nader Mashayekhi, April 1996

 

 


 

 

Nader Mashayekhi: 0 + eine Nacht

[...] Auch die Musik des 1958 in Teheran geborenen und seit 1978 in Wien lebenden Nader Mashayekhi faszinierte durch ihre ganz eigene, disharmonische Ruhe. Sowohl in Berlin als auch in Deutschland waren seine Kompositionen bisher kaum zu hören. Zu ihren Besonderheiten gehört Prozessualität, die nirgendwo hin als in einen offenen Hörraum führt wie in „0 + eine Nacht“ für Ensemble. Mashayekhi läßt den Klängen Zeit, sich zu entfalten, woraus das eigenwillige Schlagzeugstück „the sky is everywhere the same colour“ für Crotalis entstand, eine Musik über das Klingenlassen. Oder er ermöglicht ein Hören, bei dem sich Störung und Harmonie so selbstverständlich ergänzen wie Vergessen und Erinnern. Das war bei dem ebenfalls uraufgeführten „Heiligenstädter Testament“ für Ensemble der Fall, trickreich verwoben mit der Uraufführung des Klavierstücks „first draft“ und simultan aufgeführt mit der Aktion „Mashgh“. Ein Kontaktmikrophon verlieh dem Schreiben von persischen Worten auf dem Boden eine eigene Stimme und damit Gefühlen, die den Komponisten an diesem Tag emotional bewegt hatten: Liebe, Haß und Gelassenheit. Allen Aufführungen und konzeptuellen Erarbeitungen war das Ensemble Zwischentöne ein überaus souveräner Partner.

Gisela Nauck, Positionen – Beiträge zur Neuen Musik, August 2000

 

 

 


 


Nader Mashayekhi: A hasty bunch

 

N. Mashayekhi: a hasty bunch

Nader Mashayekhi: A hasty bunch (Ausschnitt), © Zeitvertrieb Wien Berlin

 

Tausend Anfänge, und immer ein anderer Weg
Der iranisch-österreichische Komponist Nader Mashayekhi mit dem „Ensemble Zwischentöne“ im Ballhaus Naunynstraße
von Matthias R. Entreß

Nader Mashayekhis Musik erzählt keine Geschichten. Jeder Moment ist ein neuer Anfang, und auf jeden Anfang folgt ein anderer Weg. Die subtilen Wandlungen finden in seiner großflächigen Musik wie das Alterwerden eines Menschen nicht als unmittelbar erlebbares Ereignis statt, am Ende aber steht eine Erfahrung: Der Unterschied zwischen Erinnerung und Gegenwart.

Der 1958 in Teheran geborene Wiener Komponist begreift sein Schaf£en als Prozess einer Identitätsfindung. Oft stehen am Beginn einer Arbeit graphische Strukturen. Sie in einen klingenden Notentext zu verwandeln, ist für Mashayekhi bereits Teil der Interpretation.

„A hasty bunch“ (Ein eiliger Strauß) ist das Hauptwerk seines Porträtkonzerts mit dem „Ensemble Zwischentöne“. Diesen Strauß hat Nader Mashayekhi in glücklicher Inspiration für die bemerkenswerten Berliner Spezialisten für Konzeptmusik gepflückt, mit denen er schon einigemale zusanmengearbeitet hat. Das fast einstündige Stück geht auf die Form des persischen Rosenkranzes – 33 größere und ein kleinerer Stein – zurück. Innerhalb der 33 Einheiten sind Tonhöhe, Dynamik und Tempo festgelegt, die Reihenfolge der Töne aber haben die Musiker für jede Wiederholung selber neu zu bestimmen. Daneben, u.a.: die musikalische Lesung des übermalten „Heiligenstädter Testaments“, Beethovens Reflexion über seine fortschreitende Taubheit.

Matthias R. Entreß, Berliner Morgenpost, Berlin live, 16. Juni 2000

 

 

Zur Site von Nader Mashayekhi: http://members.magnet.at/wien2001/

 

 

 


 

 

 

Benedict Mason: outside sight unseen and opened – german radio station

 

outside sight unseen and opened is a set of 124 pieces and 124 drawings and photographs about distance movement synchronisation and concert halls

a selection of these pieces as follows will be performed tonight in this order:

rim, alarm, hall lights, mask, silent film, inventory, trail, distant thunder, stage management, replay, all over, pans, walkmans, tuning, walk, brace, array, counter, add, spin chair, fleet, fast along, long, felt, work, tuning forks, penumbrae 1, underneath, calling, speed of sound

 

 

i'm not anti music but i don’t
get on with the catgut side of it

you see music is gut against gut
intestines respond to the
catgut of the violin

there’s a sort of intense sensory lament
or sadness and joy which corresponds to
retinal painting which i can’t stand

 

 

 

B. Mason: Ohne Titel

Benedict Mason: Ohne Titel

get unlimited free access to the space
to evolve the work in situ

work always site specifically
even if it can be performed in any space

every acoustic is objectively germane to the performance
every distance
threshold of hearing
door etc
is different

changing spaces between rehearsals and performance
is like changing the music and the musicians
before the concert

the cause and effect in the space that
performers and audience are involved in

 

 


i like it when outside becomes inside

music has lost its specialness
let’s make a fragile music

a live music that cannot be recorded

that can only be experienced live
by an in situ audience.


one never dreams sound in close-up.


let’s aim for a greater acuity in listening

it is amazing that at the end of the twentieth century
we have intact and functioning
our sophisticated human ears
still in use and capable of all manner
of acoustical assimilation

when in fact every squeak
and song and note and noise to be heard
comes out of the speaker of a cd
telephone computer or radio

and instantly has the same acoustic format

 

le cinéma sonore a inventé le silence


i’m not interested in working at my desk
with rhythms and pitches

i’m interested in working practically
with situations
cause and effect
trial and error

with the physicality of the context

the opportunity to do this
in the modern concert hall
is sadly an increasingly scarce resource

B. Mason: Ohne Titel

Benedict Mason: Ohne Titel



to write site-specific music
and bring the idea of the installation
into the activity of the concert hall


an elastic stretching of the
available aural area of a concert hall

more space for the musicians
equals more space for the audience

for their imagination


the musician makes a sound
and the building does the rest.
allow the building to be a performer as well


then light and shade
lines and angles begin to talk
and music too begins to be heard
that hidden music that one does not hear


the song rising frorn the lips of those about us
of such and such a stranger
perhaps in the most haunting circumstances

that music which floats our way
from the background of deserted places

and most sly and dangerous of all
the voice that suddenly materializes

from some forgotten corner of our memory

 

require long and involved preparation

work with distance movement
direction resonance doppler
and other acoustical phenomena
either real illusory or imagined
rather than with spatial effects per se

make the sound and let the building do the rest

treat the material of the hall itself as an instrument

space being a way to articulate theatre musically
work on the perception consciousness and awareness
and these terms’ theatrical connotations
of a concert hall audience

don’t make traditional music theatre

B. Mason: Ohne Titel

Benedict Mason: Ohne Titel


observe an audience during a performance
watch them silently watching thinking hearing

maintain a naive emptiness
to avoid the wrong kind of rhetorical expectations
and to allow these extremely fragile acoustical
phenomena to be properly experienced

work often with the material quality
of the instrumental sounds
keys reeds bows and strings as sound per se
and not as 'avant-garde' effect

avoid being composerly
too much musicky artiface
and musico-semantic connotation
distracts from the physical
and acoustical processes being set up

 

 

find a simple abstract music
that is still telling through
adding qualities of direction and distance
real illusory or imaginary
to a sound

eschewing context consequence
development and artiface
or musicality as we have come to know the term

find things at the extreme edge
or balanced skilfully between
showing another kind of virtuosity and control

be free to develop a personal potential
and expression with the instrument

not 'musicky' music with all its
idiosyncratic parameters
but the sound the instrument makes
and what happens when it
activates and energises the acoustical space

not exercise or study nor 'avant-garde' art piece
but steering a subtle course in between
testing and using what is seen and heard to work

 

the real or illusory use
of distance and proximity

the location and position
of sound sources
the foregrounding
of background information
and vice versa

and so on

in the live and recorded use of sound

B. Mason: Ohne Titel

Benedict Mason: Ohne Titel

 

Benedict Mason, in: outside sight unseen and opened – german radio station, Programmheft Juni 1999

 

 

Ein ausführlicher Bericht über die Aufführung von „outside sight unseen and opened“ findet sich hier: Outside sight unseen and opened – Erkundungen mit dem Ensemble Zwischentöne, von Frank Kämpfer

 

 

 

Benedict Mason – Music for Concert Halls:

Ohne Mißbrauch der Aufmerksamkeit. Udo Samel. Stefan Dohr. HR.

Second Music for a European Concert Hall: Ensemble Modern / Freiburg Barockorchester / Benoit Régent / Mozartsaal.

third music for a european concert hall (espro: eic: 1 love my life).

Room Purcell (Fretwork Consort of Viols. Air Conditioning. Purcell Room London).

Clarinet Concerto (Kari Kriikku, London Sinfonietta, Albert Hall, London).

ASKO/PARADISO: the Fifth Music. Résumé with CPE Bach.

Schumann-Auftrag: Live-Hörspiel ohne Worte.

SEVENTH (for David Alberman and Rolf Hind) PIANO.WITH.VIOLIN.TO.TOUR.ALL.HALLS.MUSIC

Carré, Nederlands Kamerkoor, Schoenberg Ensemble. Eighth Music for a European Concert Hall (First Music for a Theatre).

Steep Ascent within and away from a Non European Concert Hall: Six Horns, Three Trombones and a Decorated Shed. (Tanglewood).

Trumpet Concerto. Reinhold Friedrich. Full Orchestra Deutsches Sinfonie Orchester, SFB. 16. Musik-Biennale Berlin.

The Four Slopes of Twice among Gliders of her Gravity. Two model D Steinways. Two Ampico player pianos. One human being. Donaueschingen.

Szene für Jean Nouvel, drei Frauenstimmen, drei Spiegelstimmen, Orchester, Sampler und Film. KKL, Luzern.

 

 

 


 

 

Gösta Neuwirth: L'absence


L'Absence haben Peter Ablinger und das Ensemble Zwischentöne sich von mir gewünscht. Sie haben mich herausgefordert, einen anderen Weg zu suchen, als ihn die Kartographie meines Gedächtnisses Jahr für Jahr genauer vorschreibt.
Das Stück besteht jetzt aus sieben Teilen. Zwischen die Abschnitte I Taschengrus, II Onomatopoetisch, III M's Piece und IV Face au sable, sind drei Soli eingefügt (denen noch einige andere folgen sollen).

 

Reden über ...

Gösta Neuwirth: Das Streichquartett im Kopf ist meine Reaktion, mein Abgesang auf Darmstadt. 1957, als das Konzept entstand, war ich gerade am Anfang meiner Beschäftigung mit dem Theater, so daß der Umschlag in eine szenische Vorstellung nahe lag.

Peter Ablinger: Also hängt das Streichquartett im Kopf von Anfang an mit dem Szenischen zusammen und nicht nur mit der Krise und Reflexion des Notenschreibens; damit markiert es nicht nur einen Endpunkt, sondern bereits den Ansatz einer neuen Lösung.

Gösta Neuwirth: Ja. Diese neue Lösung war für mich damals nicht mehr auf dem Terrain der Töne möglich, sondern auf dem Terrain des Theaters. Dadurch war die Krise der musikalischen Ausdrucksmittel verlagert.

Im Herbst 57 habe ich in der „Arche“ mit einer Inszenierung von Draußen vor der Tür von Borchert angefangen; es war eine Leseaufführung, in der ich selbst den Beckmann gelesen habe. Außerdem – das war mein zweiter Terrain-Wechsel – habe ich 1985 die Schreker-Biographie geschrieben, das heißt, ich habe zum ersten Mal einen umfangreichen Text verfaßt. (...)

1962, in dem Jahr, bevor ich nach Berlin kam, hatte ich wieder angefangen, Musik zu schreiben. Ich wollte von festgelegten Konzepten weg. Gerade in dem halben Jahr hatte ich das Gefühl: aha, jetzt – jetzt gibt's sowas wie einen Durchbruch. Ich hatte das Hommage à Mahler-Klavierstück und den Epilog für die Unklaich-Lieder geschrieben, wo ein stärker gestisch betontes Vokabular wieder möglich war nach den seriellen Pausenausdünnungen. Da hatte ich das Gefühl, jetzt ist die Reduktionssituation überwunden. Und durch die Übersiedlung nach Berlin war dieser Puls auf einmal abgestoppt, weil ... in Berlin war überhaupt nix – ja? – war keine Resonanz da, während ich in Wien ja immer noch die Resonanz der Kompositionsklasse hatte und den Schiske hatte, klar und in Wien hatte ich die Leute im Theater, die mich beschäftigt haben, aber in Berlin saß ich sozusagen am Nordpol, ja? – Ich hatte mit Schreiben und zunehmend mit der Arbeit an der Uni zu tun, aber es gab überhaupt keinen Anknüpfungspunkt für mich als Komponist. (...)

Die literarischen Unternehmungen und die kompositorische Aktivität laufen nie ganz gleichzeitig, sondern nacheinander. Wenn ich einen Aufsatz schreibe, der nicht ganz kurz ist, dann habe ich normalerweise keine angefangenen kompositorischen Arbeiten daneben: das verträgt sich nicht; dann wird etwas aus der musikalischen Ebene auf die Seite gerückt – das ist natürlich noch vorhanden, in eine Art von Latenz versetzt, genauso wie die literarischen Fragen in Latenz sind, wenn ich an einer musikalischen Niederschrift bin.

Die ersten ausführlichen Prosa- und Lyrik-Ansätze stammen aus der Zeit zwischen 57 und 60, also der Zeit, in der das Streichquartett in den Kopf gewandert ist; ich erinnere mich, daß ich Texte nach dem Modell indianischer Knotenschnüre schrieb und sie auch Quipu nannte. Es war die Hauptzeit des literarischen Experimentierens, wobei mich damals besonders beschäftigte, Texte zu machen, die zwei Orientierungslinien haben wie in einer Partitur, Texte, die nicht nur in der Leserichtung verstanden werden, sondern mehrere vertikale Stränge haben, die sich beim von links nach rechts Lesen miteinander verknüpfen. Der spätere Doppeltext in den wordswords und das Leporello-Projekt haben ihre Modelle in diesen partituranalogen Textverfahren. (...)

Die bessere Zeit für die Nachkriegs-Kellertheater, wo sie die Horvath-Erstaufführungen noch in Wien gemacht haben, war, als ich 1954 nach Wien kam, gerade vorbei. Da hatten die Kellertheater einen Nachholbedarf an realistischem Theater. Die Form von experimentellem Theater, die wir anvisierten, für die gab’s kein Podium: für das, was die Wiener Gruppe im Theater gemacht hat, waren wir die einzige Bühne.

Der Vorteil für die Wiener Gruppe war der, daß sie mit ihren Fragen nach experimenteller Literatur und Theater die tabula rasa nach 1945 besetzen konnte. Und nur aus dem Grund war das Konzept unseres Theaters möglich. Ich habe ja neben der Regiearbeit das dramaturgische Konzept gemacht: das war davon bestimmt, nichts zu machen, was anderswo in Wien aufgeführt wurde, und damit waren wir vollkommen ausgelastet. Wir haben 5 Jahre lang jedes Semester zwei oder drei Produktionen gemacht. In den sechziger Jahren erst holten die größeren Theater diese Literatur nach.

Ich lernte den Ossi Wiener ganz kurz kennen, da war er, glaub ich, einmal am musikwissenschaftlichen Institut; und offenbar hat er da an einem seriellen Stück herumgearbeitet – jedenfalls erinnere ich mich an ihn mit Noten. Den Artmann kannte ich sehr gut, weil der einer unserer Hausautoren war; und vom Rühm habe ich ein Stück erstinszeniert. Aber eine ästhetische Diskussion mit der Wiener Gruppe kam aus irgendeinem Grunde nicht richtig zustande ... vielleicht auch wegen der unterschiedlichen Lebensweisen ... Der Rühm und der Artmann und der Wiener gehörten zur Wiener Szene, und wir vom Theater waren nach Wien hineingschneite Studentenprovinzler. I denk in der Hauptsach, daß wir von denen nicht ganz voll gnommen wurden, weil wir zu jung warn. Die waren gerade um die paar Jahre älter, die es brauchte, um gleich nach dem Krieg als junge Garde auftreten zu können. Als ich nach Wien kam, waren die Reviere schon verteilt: der Gütersloh hatte seine Malklasse arriviert, der Weigel hatte seine Literaten hingesetzt, und die Wiener Gruppe hatte ihren Platz der etablierten Opposition auch schon bestimmt. (...)

Eine der wesentlichen Erfahrungen, die ich jetzt in die Arbeit mit dem Ensemble Zwischentöne übertragen habe, geht zweifellos auf die Theaterarbeit in Wien zurück. Wenn ich in einem Studententheater auf einer Probe etwas festlege, kann ich nicht damit rechnen, daß mir alles bei der nächsten Probe wieder abgeliefert wird. Ich muß eine Variationsbreite offenlassen; ich darf meine Vorstellungen von dem, was der Interpret macht, nicht so eng fassen. – Einem professionellen Schauspieler sage ich: du gehst jetzt fünf Schritte dorthin, dann legst du die Hand da rauf, dann gehst du mit der Stimme runter, dann machst du zwischen dem Wort und dem Wort und dem Wort eine Pause: und das merkt er sich. – Ein nichtprofessioneller Schauspieler muß eine ganz andere Art Identifikationsprozeß vollziehen (wobei mich die schon damals üblichen Methoden der Einfühlung nicht interessieren). Ich muß ihm den Text so plausibel machen, daß er sich selbst darin zurechtfindet; ich muß für ihn eine Möglichkeit finden, daß er mir zeigt, was er sich da vorstellt.

Deswegen sind wir oft zu Stegreiftheater-Aufführungen gegangen, die es in Wien noch gab in der Vorstadt. Da steht zum Beispiel: „Heute am Programm: Vor Sonnenuntergang von Gerhart Hauptmann.“ Da wird natürlich keine Zeile Text von Gerhart Hauptmann gesprochen, sondern die Schauspieler haben einen Szenenrahmen, sie improvisieren. Was erfindet ein Schauspieler, wenn er die Vorschrift hat: „Monolog: Vater über ungehorsame Tochter?“

Peter Ablinger: Von deinem Stück L’Absence hast du während mehrerer Monate jede Woche zwei bis vier Minuten zur Probe mitgebracht; die Entstehung des Stückes kennzeichnet so eine Ungewißheit der Produktion und gleichzeitig auch die Reaktion auf das Vorhandene oder, könnte man sagen, auf das Ungewisse. Mir schien, daß du von Probe zu Probe genauer oder individueller auf die einzelnen Spieler reagiert hast, so daß der Arbeitsprozeß des Komponierens etwas Ähnliches war wie die Reaktion der Laiendarsteller im Theater.

Gösta Neuwirth: Im Sommer, als ich noch nicht mit dem Ensemble gearbeitet hatte, wollte ich mit dem Stück anfangen; da fehlte mir genau diese Art von Anschauungsgrundstoff, und mir wurde klar, daß ich, so wie ein guter Schneider, an jedem Einzelnen vom Ensemble zuerst Maß nehmen müßte, bevor ich den Anzug machen könnte.

Peter Ablinger: In Taschengrus, dem ersten Teil des Stückes, nennt jeder seine Maße.

Gösta Neuwirth: Tatjana fragte mich, warum ich bei den Proben nicht öfter interveniert habe. Völlig klar, das wäre genau das Falsche gewesen, etwas vorzuschreiben, wenn doch der Prozeß im Gange ist; das wollte ich offen lassen.

Angela von Moos: Trotzdem ist deine Partitur ausnotiert.

Gösta Neuwirth: Naja ... sie ist nach meinem Verständnis natürlich nicht ausnotiert, weil ich Entscheidungs-Freiräume offengelassen habe. Für mich macht es sehr viel aus, wenn ich sage: du kannst deinen Ton innerhalb von acht Sekunden hinsetzen. In der Partitur sind das 24 cm! Normalerweise setze ich einen Ton auf den Millimeter genau.

Peter Ablinger: Du hast in L’Absence eine eigene Art entwickelt, mit Wiederholungen umzugehen, was zu einer großflächigen, großzügigen Gestaltunggeführt hat, die ich bei dir noch nicht kenne.

Gösta Neuwirth: Ich hoffe nicht, daß es ein Alterssymptom ist. Als du mich gefragt hattest, ob ich für die Zwischentöne etwas machen wollte, dachte ich: das ist für mich eine Chance, Ungewißheit zu erzeugen. Gerade war das über 30 Jahre weitergearbeitete Proust-Projekt zu einer abgerundeten Form gekommen ... „Aber da ist noch etwas anderes: die Beziehung des Schreibens zum Tod äußert sich auch in der Verwischung der individuellen Züge des schreibenden Subjekts. Mit Hilfe all der Hindernisse, die das schreibende Subjekt zwischen sich und dem errichtet, was es schreibt, lenkt es alle Zeichen von seiner Individualität ab; das Kennzeichen des Schriftstellers ist nur noch die Einmaligkeit seiner Abwesenheit; er muß die Rolle des Toten im Schreib-Spiel übernehmen. All das ist bekannt; und schon seit geraumer Zeit haben Kritik und Philosophie von diesem Verschwinden oder diesem Tod des Autors Kenntnis genommen.“ (Michel Foucault, Schriften zur Literatur, München 1974, S.12)

(Mit Gösta Neuwirth sprachen Peter Ablinger und Angela von Moos, die den Text redigierte.)

In: Ensemble Zwischentöne: Gösta Neuwirth, Programmheft Januar 1994

 

 

Gösta Neuwirth

Geboren 1937 in Wien. Seit 1939 bis 1953 in Ried in Oberösterreich. Der Inn, die Grenze im Westen zu Bayern, war nah. Lernte Lesen, Schreiben, Geige spielen, Noten schreiben, auf den Fliegeralarm zu achten, im Wald Munition und Pilze zu suchen. Motto: Unter Geiern oder Durch die Wüste. 1954 Matura in Graz und im Herbst nach Wien. Studierte Komposition, gründete mit Freunden ein Theater (DIE ARCHE), schrieb Musik und ein Buch über Schreker. Entkam dem Oger 1963 nach Berlin und blieb bis 1972. Von 1973 bis 1982 in Graz, seitdem wieder in Berlin.

 

 


 

 

Makiko Nishikaze: garden, nocturnal

Aufmerksam hören – das ist immer mein Thema. Die Bewußtheit des Hörens vermag die anderen Sinne zu beeinflussen. Ist es nicht so: Je mehr man versucht zu hören, umso mehr sieht oder schmeckt oder fühlt man.

Diesmal habe ich einen Garten geschaffen, in den ich euch alle herzlich einlade. Ein weiterer Versuch, eine neue Stufe der Hörfähigkeit zu erreichen.
Das Motto des Stückes, das ich beim Komponieren von Zeit zu Zeit sang, möchte ich hinzufügen:

„ ... non contemplantibus nobis, quae videntur, sed quae non videntur. Quae enim videntur, temporalia sunt, quae autem non videntur, aeterna sunt.“ Zu deutsch: „ ... die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“ (2 Kor. 4,18)

Es möge auf etwas verweisen, ein wenig ferner von hier.

Makiko Nishikaze, in: Musik für den Blick nach draußen, Programmheft Juni 2001

 

 

garden, nocturnal

„Listening attentively“ is always my theme.The awareness of listening could affect your other senses. More you try to listen, aren’t you also becoming to see more or taste more or feel more?

Here, I created a garden, and I heartly invite you all.This is another attempt to find a new level of listening capability. I would like to put the motto of the piece, which I was chanting from time to time while composing.

... non contemplantibus nobis, quae videntur, sed quae non videntur. Quae enim videntur, temporalia sunt, quae autem non videntur, aeterna sunt. (Ad Corinthios 11 4,18)

It may point at just a little bit further from here.

Makiko Nishikaze, June 2001

 

 

M. Nishikaze: garden, nocturnal

Makiko Nishikaze: garden, nocturnal (Ausschnitt), ©

 

 

[...] Daß auch Auskomponiertes den Reiz und die Zerbrechlichkeit eines organischen Prozesses oder unvorhersehbarer Ereignisse haben konnte, bewies Makiko Nishikazes „garden, nocturnal“. Die Musik, bei Nishikaze sonst stets als ruhiger Fluß der Intuition wahrgenommen, schien fast stillzustehen. Im Bestreben, sich auf keine „Musiksprache“ festlegen zu wollen, hatte Nishikaze sich diesmal an den absoluten Rand des musikalisch Tastbaren begeben, wo zwischen „Bild“ und Klang sich das pure Nichts öffnete. Ein Stück, das sich der Körperlichkeit der Musiker, der Hörer und des Saals mehr als einmal zu entziehen drohte.

Matthias R. Entreß, Positionen – Beiträge zur Neuen Musik, August 2001

 

 

Makiko Nishikaze

Geboren 1968 in Wakayama, Japan. Kompositionsstudium in Nagoya, am Mills College in Kalifornien bei Alvin Curran und an der Hochschule der Künste Berlin bei Walter Zimmermann. Makiko Nishikaze erhielt für ihre Arbeit mehrere Auszeichnungen, darunter ein Kompositionsstipendium des Berliner Senates (1994), den Kompositionspreis der Landeshauptstadt Stuttgart, ein Stipendium der Akademie Schloß Solitude (1999) und ein Aufenthaltsstipendium im Künstlerhof Schreyahn des Landes Niedersachsen (2001).

Aufführungen zuletzt u. a.: Festival Musik im 20. Jahrhundert SR, Musica Silenciosa Rio de Janeiro, ZKM Karlsruhe, Kunstraum Düsseldorf, Akademie Schloß Solitude, Festival PianoPianoForteForte Berlin, Festival Eclat Stuttgart.

 

Zur Site von Makiko Nishikaze: http://www.timescraper.de/komponisten/makiko_nishikaze.html

 

 


 


Georg Nussbaumer: Märchen vom Lied vom Wald

 

Der Wald erzeugt den Wind. Die Blätter fächeln einen Aufruhr in die Luft, der sich erst in den wandernden Dünen der Sand- und Eiswüsten legt. Dort wo labile Körnchen/Teilchen-Masse Stille erzeugt, sofern der Unruhefaktor Wasser fern oder durch Kälte gebunden ist.

Der stille Wald, der schöne Wald, der kühle, der schützende, die Waldesruh: Beschwörungsformeln deutscher Waldangst; jahrhundertelange Dendrophobie als Generator einer beschönigenden Kulturarchitektur. Gernot, Gunther, Giselher: kleine Seufzer in einem übermächtigen Baumorganismus. Eschenbachs Helden (um ihres Lanzenverbrauchs als „Waldvernichter“ bewundert): nichts als Kapitulanden vor der erschütternden Selbstheilungskraft ihrer Umwelt.

Die Säge ist die Waffe am Wald. Dass sie Zähne hat, um ins Fleisch ihres Gegners zu schlagen, verwundert kaum; dass die Bewegungsform des Sägens (in der Prä-Kettensägenära – aber nur diese ist für das Folgende relevant) auch fürs Spielen von Streichinstrumenten maßgeblich ist, ist schon markanter. Jedoch (der Kreis schließt sich, wie beim Aufsetzen des Bogens auf die Saiten): Was quillt beim Schneiden in Bäume aus diesen? Und was haftet nicht nur am Sägeblatt, sondern – unter dem Pseudonym „Kolophonium“ – auf der Rosshaarbespannung des Bogens? – Harz.

Das klebrige Hindernis beim Sägen ist Voraussetzung fürs Geigen. Ohne Harz würden die Bogenhaare nur chhhhhhhhhhhhhh über die Saiten gleiten. Der vom Fällen des Baumes bis zum ersten Strich des Bogens aufgebrachten Energie wäre wieder (nur?) dieses in den Blättern ohnehin längst vorhandene Rauschen entsprungen.

Gibt es auch in Bernstein eingeschlossene Klänge? (Vielleicht ein Stückchen eines Saurierschreis?)

Die Zunge ist das Singen, wie das Singen der Kuss und der Kuss der Geschmack, über den non disputandum est.

Sängermeister: Rein in die Wälder, raus mit den Zungen!

Und wer hört zu? – Der Fleischwolf. Der Fleischwolf ist das Ohr: Schalltrichter zum Empfang des Liedes (passiv) und kurbelbetriebene Schnecke (aktiv) zur Verarbeitung des Liedes. Nachdem der Fleischwolf das flüchtige Lied gehört hat, ist es amorph, als markante Struktur verschwunden. Ein Knäuel benutzter Schallwellen. Die Tuba ist ein goldener Ohrenrachen („Warum hast Du so große...?“).

In der Dämmerung beginnt auch der Wald zu hören; und das Feld zu sehen (die Ackerschollen als Augenlider).
Der Wald ist ungut, das „Märchen vom Lied vom Wald“ eine süße Geigenweise.

Georg Nussbaumer, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft Juni 2002

 

 

G. Nussbaumer: Märchen

Georg Nussbaumer: Märchen vom Lied vom Wald

 

 

G. Nussbaumer: Märchen

Georg Nussbaumer: Märchen vom Lied vom Wald

 

 

G. Nussbaumer: Märchen ...

Georg Nussbaumer: Märchen vom Lied vom Wald

 

 

Georg Nussbaumer

Geboren 1964, versteht Musik als Abrieb plastischer Vorgänge, als Begleiterscheinung von Energietransformationen. Für seinen gesamtkünstlerischen Anspruch ist ihm die Verwendung organischer wie anorganischer Materialien und die Erweiterung des traditionellen Instrumentariums mit Gegenständen oder Geräten des täglichen Gebrauchs ebenso selbstverständlich wie die Arbeit mit Video, lebenden Tieren oder das Lesbarmachen von Objekten, Typoskripten oder Pornografie als Notation. „Hinterhältige Zusammenhänge, in Tiefenschichten konsequent durchdacht.“ (Martin Sturm)

Aufführungen u. a. bei: festival der regionen, Insel Musik, Melos-Ethos Bratislava, Festspielhaus St. Pölten. Zuletzt meist abendfüllende Kompositionen/Installationen für: Kunsthaus Bregenz, Brucknerhaus/Parkbad Linz. Demnächst: opera-late-night Nürnberg, Konzerthaus Wien, MAK-Wien, Stadttheater Bielefeld („orpheus-installationsoper“), Operninstallation („parsivalsurvivaltrail“) im O.K Linz, New Langton Arts San Francisco ... meist mit dem auf die Realisierung von seinen Konzepten spezialisierten „symphoid (ein ensemble für musik und ihre derivate)“. Anton Bruckner-Preisträger 2001. „artist in residence“ des O.K – Centrum für Gegenwartskunst 2001 (Linz) und des „djerassi resident artists program“ 2002 (Woodside, Kalifornien).


Zur Site von Georg Nussbaumer: http://members.aon.at/georgnussbaumer/

 

 

G. Nussbaumer: Märchen

Georg Nussbaumer: Märchen vom Lied vom Wald (Ausschnitt), © Ariadne-Verlag

 

 


 

 

 

Georg Nussbaumer: parsivalstudien


Verwandlungsmusiken aus dem Umfeld der Arbeit an der Operninstallation „parsivalsurvivaltrail“. Wuchernde Seitentriebe als Lesehilfen im Wonnevollen (bei Wolfram) und Weihevollen (bei Wagner). Näherungen (nicht Gleichungen) an das Epos wie die Oper auf den Ebenen: Requisiten, Pflanzen, Tiere, Menschen, Waffen, Quellen, Könige ... und deren Eigenheiten/schaften.

Die Operninstallation wird ohne zeitliche Ausdehnung und ohne Interpreten als Weg durch Klangmaschinen, sensorengesteuerte Klänge, Videoobjekte, windgesteuerte Live-Videos und Installationen existieren. Ein tonnenschwerer, zu ergehender Moment.

Die „parsivalstudien“ sind Zeitschleier, einzeln oder übereinandergebreitet:


im bergenden schrein (ein hämmerflügel)
„Geleiten wir im bergenden Schrein den Gral zum heiligen Amte.“ (Ritter)
Klavier, 4 Spieler


der schwanengrottenblauton („königludwigsonate“)
Der Bayernkönig Ludwig II hatte einen Bediensteten, der für den richtigen Blauton des Wasser einer künstlichen, mit einem Schwanennachen schiffbaren Grotte (in Neuschwanstein, wo sonst?) zuständig war. Stimmte der Blauton nicht, wurde der Diener entlassen.
„Lass Du hier künftig die Schwäne in Ruh!“ (Gurnemanz zu Parsifal)
Flöte


hairycundrymusic
Ein mit den Bogenhaaren in die Saiten („Oh! – Sehnen – Sehnen! “ (Kundry)) gekerbtes Schriftzeichen: schlafend, aufwachend, gespiegelt.
Violoncello


vom bade kehrt der könig heim
Das aus einer frühen (1927) Parsifaleinspielung isolierte Schellackknistern folgt der Hüllkurve derselben: Regen, Dusche, Stromschnellen – Wellen.
CD


waldscene (germaniafrottage) – schlachtscene
Ein Stamm Treibholz aus der Donau, der auf seinem Weg durch „germania“ (am Limes) Klänge des Reibens und Stoßens an Steine, Beton etc. im Strom hinterlassen hat, wird erneut frottiert: Die Oberflächenstruktur geglätteten Holzes unbekannter Herkunft. – Im zweiten Teil, nach dem ungefähren, vegetabilen: Eine Siegfriedstellung, die auch eine Parsivalstellung ist, der ja nicht nur Ritter so gegen Bäume drückte, dass das Blut aus den Visierschlitzen spritzte, sondern auch die Faust so ballte, dass das Blut unter den Nägeln hervor- (wieder!) spritzte.
Viola


gläserkreuz (brot trinkt wein)
Aus dem Lexikon der Passionszeichen.
Aktion mit Wein, Nagel ...


wonnegartenhonigwüste
Video
„Meine Reise kommt mir so sinnwidrig vor. Nur geographisch ist’s richtig. Aber nach dem Parsifal sollte man pilgern, lange, bis ans Ende der Welt, und dann irgendwie verschallen.“ – Otto Weininger

Georg Nussbaumer, in: Klangwerkstatt 2001 – Neue Musik in Kreuzberg, Programmheft November 2001

 

 

G. Nussbaumer: parsivalstudien

Georg Nussbaumer: parsivalstudien

 

 

 

 


 

 

 

Georg Nussbaumer: Der Hebel des Lichts

 

Allerlei Wassermusik – Konzertinstallation in der Toilette der Berliner Schaubühne
von Volker Straebel

Ortsspezifische Kunst ist bekannt. „Musik für Orte“, wie sie derzeit Peter Ablingers Ensemble Zwischentöne in einer dreiteiligen Konzertreihe vorstellt, stellt hingegen eine relativ neue Entwicklung dar. Jüngstes Beispiel für diese raumgebundene akustische Kunst ist die Performance „Der Hebel des Lichts – Dämmerungen, Wasserfälle, Treibgut“ des Linzer Komponisten Georg Nussbaumer, die das Ensemble Zwischentöne in den Publikumstoiletten der Berliner Schaubühne zur Uraufführung brachte.

In ungewöhnlicher Umgebung etablierte man eine in ihren Mitteln und Anspielungen üppige Wassermusik, die vom stummen Video der Morgen- und Abenddämmerung über Grönlands Eisbergen über in geschlossenen Kabinen der Damentoilette betätigte Spülkästen bis hin zu den „interaktiven“ mittels Photozellen vom Publikum zu steuernden Pissoirs reichte. Diese Becken waren bis zum Rand mit zerstoßenem Eis gefüllt, auf dem jeweils ein großer, poetisch beschrifteter Kiesel lag, der im Lauf der knapp einstündigen Performance langsam hinabsank. An der gekachelten Wand zogen Schnecken ihre glitschige Spur. Dieser Vielfalt im Detail steht die Ruhe der aus zwei mal zwölf Pisoirs gebildeten Doppelreihe entgegen – keine Schamwände stören den Blick, Aschenbecher an jedem zweiten Becken setzten Akzente.

Die jeweils acht über Eck angeorneten Waschbecken in den Eingangsbereichen der Toiletten versah Nussbaumer mit Kieseln, Schneckenhäusern und quarzähnlich schimmernden Salzblöcken, die unter den von Robin Hayward und Susanne Reuther regulierten Wasserstrahlen langsam dahinschmolzen. Treibhölzer, kleine Fossilien und Fundstücke, akribisch auf den Seifenablagen der Becken angeordnet, weiteten die Assoziationen des Besuchers in Zeit und Raum. [...]

Volker Straebel, Der Tagesspiegel, 3. Juni 1999

 

 

 

Der Hebel des Lichts
Programmhefttext von Georg Nussbaumer

 

Jeder Stein ist ein potentielles Gebirge. Die Eingeweihten wechseln ohne Schwierigkeit von einem Größengrad zum anderen.
Roger Caillois, Steine

alsdann reisen!
Ludwig van Beethoven

Hebel: ein um eine Achse drehbarer, starrer, meist stabförmiger Körper, an dem Gleichgewicht herrscht, wenn die Summe der Drehmomente aller an ihm angreifenden Kräfte gleich null ist.

Licht: der sichtbare Bereich der von der Sonne und anderen Strahlungsquellen ausgehenden elektromagnetischen Strahlung, in der Physik definiert als der Wellenlängenbereich zwischen 400 nm (Blau) und 800 nm (Rot).

 

Am Anfang

Am Anfang stand die Vorstellung eines Toiletten- oder Rauschkonzertes. Im Laufe der Arbeit wurde es immer kälter, die Ausstattung und die Geräuschwelt der Toilettenanlage mutierte zu einer unscharfen Miniaturarktis: Verwerfungen, Öffnungen, Faltungen und Abgründe; weiße glatte Gebilde, kleine namenlose Seen, Schlünde, Siphone; verschränktes Tosen von Wasserströmen und Wasserfällen; gleißende Dämmerung in einer weiten, weißen Landschaft, in der die großen Gedanken Raum gewinnen und in der Enge der Kabinen wie in der Weite des ewigen Eises flüchtig sind wie nach einem Traum.

Die soziale/symbolische Bedeutung einer Toilettanlage trat zugunsten einer mit einfachen Mitteln wie Steinen, Treibgut etc. zu errichtenden Pseudoarktis in den Hintergrund: Der Hebel des Lichts wurde eine ineinandergeschachtelte Installation/Komposition mehrerer verschiedenartiger Partituren — von Instrumentalmusik (Klaviere) über Sprech- und Aktionspartituren (Typoskripte) bis zu halbautomatischer, interaktiver Maschinenmusik (Pissoirs) und völlig bewegungs- und klanglosen Ereignissen, die als Lowtech-Parameter einer infantilistischen Scheintopographie fungieren.

Arbeiten, die inhaltlich alle um das flüssige oder gefrorene Wasser einerseits und um die weiße Helligkeit und die Finsternis der Nordwestpassage andererseits kreisen — also um jenen Bereich, in dem wir Zähigkeit und Dauerdämmerung, die Fluktuation zwischen hell und dunkel und zwischen fest und flüssig erwarten.

Mit dem Fortschreiten der Arbeit wurde Der Hebel des Lichts auch als Rudiment des Mythos von Orpheus und Eurydike lesbar. Aus Vermutungen in einer vorgefundenen Modellunterwelt, in der wir uns nicht gerne umdrehen, ergaben sich folgende Erhellungen / Dämmerungen: Orpheus, der mir angesichts dieser geschlechtergetrennten, bespiegelten Unterwelt immer wieder einfiel, war wirklich da: der Name (von ophruoeis „am Flußufer“); die Geschichten mit den Flüssen, der eiskalte Unterweltstrom Styx, der versiegende Helikon und andere; das Nicht-Umdrehen; das Rühren der leblosen Gegenstände; die Verwandlung in Stein, die in einen Stein verwandelte Schlange; Orpheus eigenes Dasein als Treibgut; die beiden Leiern, die in der Schaubühne so nahe am Eingang zur Unterwelt bereitstanden.

Nördlicher Wendekreis: Der Thriller Yukon mit Charles Bronson spielt mit seinen kahlen Flächen und plötzlichen Geschwindigkeiten auch mit.

 

 

Orte

I: Damentoilette


Der Hebel des Lichts / Wasserfälle
4 Sprecher / Toilettenrauschen / Sinkender Ton


Eine Komposition, deren Gewicht durchaus meßbar wäre: möglicherweise Tonnen von Wasser, die kurz hörbar in die Unterwelt passieren. Eine federleichte Gegenkraft stellt die rezitierte Namensliste aus James Joyces Finnegans Wake dar. Personen werden genannt, ihre Bedeutung schwebt kurz über dem Abgrund (Malström-Schlund, Charybdis) und geht in Rauschen auf. Eine gigantische Brandung löscht das Bedeutungsgewicht der Gästeliste: Heniden.

Um von der Heniden-Theorie auszugehen, sei folgende Beobachtung erzählt. Ich notierte gerade, halb mechanisch, die Seitenzahl einer Stelle aus einer botanischen Abhandlung, als ich etwas in Henidenform dachte. Aber was ich da dachte, wie ich es dachte, was da an die Tür des Bewußtseins klopfte, dessen konnte ich mich schon im nächsten Augenblick trotz aller Anstrengung nicht entsinnen.
Otto Weininger, Begabung und Gedächtnis

Wasserflaschen: eine horizontale Gegenkraft zu den vertikalen Wasserstürzen. Ein Ausgleich (temperance) zwischen dem Gewicht der Spieler und dem Gewicht der Flasche (Trinken); aber: Absinken des Tones.


Der Hebel des Lichts / Echo (privat)
4 Cassettenrecorder


Der Hebel des Lichts / Morgen in Grönland
Video

 

II: Damen- und Herrentoilette, Waschräume


Helikon-Passagen
2 Interpreten an 20 Waschbecken (nur kalt)
als Wanderer zwischen den Welten (m & w) und Maschinisten der Wasserstrahlen


... reinigten sich im Flusse Helikon von Orpheus Blut. Der Flußgott tauchte auf eine Länge von vier Meilen unter und kam mit einem anderen Namen zurück. So vermied er es, Mitschuldiger an dem Mord zu werden.
Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie


Helikons Zeugen f
(Waschbeckendekor: Steine, Salz, Schwemmholz, Fossilien)


Helikons Zeugen m
(Waschbeckendekor: Steine, Salz, Schwemmholz, Treibgut)


Fossilien: Fundort Paß Gschütt, in der Nähe von Hallstatt (Salzbergwerk). Treibgut: Fundort Schlögener Schlinge (Donau). Zeugen ihrer eigenen Geschichte und des vor ihnen aufgeführten Stückes.

Die Phänomenologie der Schotterbänke: Momentaufnahme eines Ordnungsdrangs; die Steine sind nach Größe und Form geordnet.
Farbhäufungen lassen auf eine gemeinsame Herkunft schließen. Zum Beispiel sind die eiförmigen einer bestimmten Größe zumeist rötlich, oder längliche gesprenkelte Granitsteine weisen eine ähnliche Körnung auf. Die Übergänge sind fließend, man hat den Eindruck, alle Signifikanzen nur dann zu bemerken, wenn man nicht genau hinsieht — wie der blinde Fleck im Dunkeln. Eine (kartographische) Kontraktion der geologischen Gegebenheiten großer geographischer Gebiete.

Die Steine, die auf ihrem Weg zusammenblieben (?) oder an dem Fundort wieder zusammenkamen (?), wurden immer nach Ähnlichkeit innerhalb weniger Quadratmeter an Schotterbänken der Donau gesammelt: eine weitere Rückordnung / Wiedervereinigung (für eine Fälschung).

Salz: Genaue Bezeichnung: Bergkern; löst sich rasch auf und kehrt in einer völlig veränderten Welt (nach Jahrmillionen) ins Wasser zurück. Ausnahmen: zum Beispiel Death Valley.

Schwemmholz (Skulpturen):Wal, Schneehuhn, Wiesel, Walroß mit Jungem, Wolf oder Hund, Karibukopf, Seehund, Falke oder Eule, Moschusochse, Kranichkopf. Lemming (?), Gans, Groppe, Schwan, Falkenjunges, Schwanenpaar, Seevögel, Walroßkopf, Belugawal, Rohrfragment mit Tierköpfen (Karibu und Wolf).

Seifen: nicht realisiert.

Findlinge — die glaziale Deformation (Abrundung) von Gesteinsbrocken in kurzer Zeit nachbildend; rotieren in den Händen immer in dieselbe Richtung.

 

III: Herrentoilette


Der Hebel des Lichts / Nordwestpassagen
Pissoirinstallation (Steine, Eis, Texte, Schnecken)


Es ist das letzte Stück „Okeanos“, das heute erschlossen wird. Der Okeanos war einst das Weltmeer, das die bewohnte Erde umschloß, das Grenzenlose. In der Vorstellung aller Völker ist es dieser Weltozean, der die Grenze des Endlichen darstellte, die unüberschreitbare Barriere. Er umgürtete das Weltbild der Griechen wie das der Inder und Germanen. Es spukte noch in den Köpfen der Besatzung der Karavellen des Kolumbus, die befürchtete, in dem Rachen der Seeungeheuer zu landen, die diesen Ozean bevölkerten.
Wie die Neue Welt entdeckt war, der Globus umfahren, zog sich der Okeanos nach den beiden Polen zurück. Hier blieb er Grenze, die Grenze des Unbetretbaren, Unbefahrbaren.
John Ross, Mit Kind und Kegel durch die Arktis

Pissoirs mit gestoßenem Eis gefüllt, darauf ein beschrifteter Stein: Die schwimmenden Felsen bei Homer; allerdings — nach Bimsstein und Eisberg — die dritte Möglichkeit: Der Findling, der mit (auf oder in) dem Eis treibt und mit der Wärme zum Stillstand kommt.

Packeis: Die geringste Bewegung hat in dieser labilen — durch Sensoren und Lichtschranken stabilisierten — Welt Folgen: Nach stundenlangem, möglicherweise tagelangem Ansichhalten plötzliches Hervorbrechen von Wasserstürzen, Flutung des Eises.

Gefälschte Fundorte (Baffin Island):Meta Incognita Peninsula, Hall Peninsula, Cape Mercy, Exceter Sound, Cape Dyer, Home Bay, Henry Kater Peninsula, Cape Raper, Scott Inlet, Pound Inlet, Bylot Island, Eclipse Sound, Navy Board Inlet, Borden Peninsula, Admirality Inlet, Cape Crauford, Brodeur Peninsula, Bernier Bay, Fury and Hecla Street, Parry Bay, Frozen Street, Repulse Bay, Wager Bay, Roe's Welcome Sound.

 

Das Opfer des Eisblinks
Texte oberhalb der Pissoirs: John Ross


Schnecken: Bringen sich Tage vor einsetzendem Hochwasser an höhergelegenen Orten in Sicherheit. Ein Bild des ständig zu- und abnehmenden Mondes; Symbol stetiger Erneuerung. Die Mondphasen und ihr Einfluß auf Wasser, Fruchtbarkeit etc. Durchgang durchs Labyrinth: Aufstieg aus der Dunkelheit zum Licht. Verschwinden, Zurückziehen; Schnecke-Schlange. Attribut von Habakuk: einer der zwölf kleinen Propheten (Name von Duftpflanze, Wasserminze). Traum: Schnecken sehen: langsamer Fortgang des Erhofften.

Magnetpol: Die natürliche gegenseitige Abstoßung von Salz und Schnecke.


Ebbe: Hall
2 Cassettenrecorder


Der auf den Klavieren mit kleinen Steinen gespielte Teil der Komposition Ebbe: Echo (Orpheus horcht) mit den in den Pissoirs lagernden Steinen vergrößert.


Der Hebel des Lichts / Abend in Grönland
Video

 

IV: Garderobe / Gang


Ebbe: Echo (Orpheus horcht, linkes Ohr)
Klavier, Schneckenhäuser, Steine, Axtkörper
Ebbe: Echo (Orpheus horcht, rechtes Ohr)
Klavier, Schneckenhäuser, Steine, Axtkörper


Eurydike folgte Orpheus durch den dunklen Gang, geführt von den Klängen seiner Leier.
Den Angriff einer lemnischen Schlange auf Orpheus wehrte Apollon ab, indem er sie in einen Stein verwandelte.

Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie

 

Gezeitenstuhl

Geschmacksbeigabe für die Wanderung zwischen den Welten / Gezeiten: „Eiswürfel“. Das ausgestelltes Stuhlbein hängt über Ezra Pound wieder mit Homer zusammen.

Feuer I (Venedig): Nach einem nicht gelungenen Besuch am Grab von E. P. auf der bereits geschlossenen Friedhofsinsel San Michele fand ich zum Trost das versengte Stuhlbein in einem Haufen Schwemmgut. Später machte mich Walter Pilar auf jene Photographie aufmerksam, die die Aussicht aus dem Zimmer in der Calle dei Fratti zeigt, in dem E. P. anfangs wohnte: Unter aufsteigendem Rauch eine Werkstatt, in der Tag und Nacht Gondeln repariert und neu gestrichen wurden.

Feuer II: Sprinkleranlage. Eine an die Decke gespiegelte Flotte von Feuerwehrschiffen, eine negative Pfingstwundermaschine.

 

Georg Nussbaumer, in: Der Hebel des Lichts, Programmheft Mai 1999

 

 

 

Georg Nussbaumer

Georg Nussbaumer

 

 

 

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